MFG - Wetterkapriolen
Wetterkapriolen


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Wetterkapriolen

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2013
So schön hätte alles sein können, ja der Himmel hing doch eben gerade noch voller Geigen. Das Frequency Festival fegte die Stadt auf die Titelblätter der Nation und riss Teenager (junge Menschen!) zu facebook-Hymnen auf die Traisenmetropole hin, wie z. B. „st. pölten ist die beste stadt zum leben, die st. pöltner sind einfach die besten leute.“ Genau! Endlich erkannte man unser wahres Ich.
Auch der Kanzler schien uns plötzlich ganz lieb zu haben und ließ sich ganz, ganz oft anschauen, wofür er auch gleich mit sechs Fotos in der Gemeindezeitung belohnt wurde, was selbstverständlich nichts mit der nahenden Nationalratswahl zu tun hat, sondern ausschließlich mit unserer Bedeutung.
Das Wiener Szenemagazin – Wien und Szene! - „The Gap“ interviewte den Bürgermeister, unseren Bürgermeister, und kam dafür sogar extra nach St. Pölten! In die Seedose, zum Viehofner See, weil so etwas Schönes gibt’s nur bei uns! Bei der Abfahrt sollen die Redakteure geweint haben, weil sie nach diesem Ausflug in die große Welt wieder ins schirche Wien zurückfahren mussten.
Selbst das NEWS-Bezirke-Ranking, das St. Pölten auf den 112. Platz von 117 Bezirken reihte, konnte uns nicht aus der Fassung bringen. NEWS – na eh scho wissen ... Und dass das Ganze auf Statistiken fußte, entriss uns nur ein nonchalantes „Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Böswillige Sticheleien wie „St. Pölten hat wahrscheinlich deshalb so wenig Sonnentage, weil die Feinstaubbelastung so hoch ist“ ignorierten wir nicht einmal.
Selbst zur Selbstironie waren wir fähig und lachten bei Michael Niavarani mit, als er uns via ORF aufs Korn nahm: „Mein Freund hat gesagt: ‚Fahr wohin, wo’s nichts gibt. NICHTS!‘ Hab ich mir gedacht: St. Pölten ...“ Haha ... nix los ... haha ...
Ja, wir waren schon soooo weit – und dann DAS!
Eine Wetterkarte ohne St. Pölten. Verstehen Sie?! EINE WETTERKARTE OHNE ST. PÖLTEN!!! Und das auf Servus-TV, dem meistgesehenstem Sender der Erde. Da kippte der Bürgermeister aus den Latschen. Da schrillten im Magistrat die Alarmglocken – verstieß das nicht gegen das Rundfunkgesetz, den Landeshauptstadtgleichbehandlungsgrundsatz, zumindest irgendeine UN-Konvention? Der Bürgermeister verfasste jedenfalls ein Schreiben, voll der Empörung, und die Presseabteilung schickte seine Botschaft unter dem ungemein originellen Titel „Ein Wetter ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft“ in die Welt hinaus. Alle sollten von dieser Ungeheuerlichkeit erfahren! Das Stadtoberhaupt, ganz Staatsmann, ließ darin uns verwirrte, nein verängstigte Bürger wissen: „Ein Schreiben an die Redaktion ist bereits unterwegs, denn es ist nicht akzeptabel, dass St. Pölten als Landeshauptstadt gänzlich negiert wird und damit auch kein ‚Wetter‘ hat. Ich glaube nicht, dass das ‚zufällig‘ passiert. Deshalb habe ich die zuständigen Redakteure nach St. Pölten eingeladen. Es gibt hier so viel zu entdecken, dass sie später sicher nicht mehr auf St. Pölten vergessen.“ Da taten sich ja Abgründe auf! Das Ganze passierte NICHT zufällig, sondern war ein gezieltes Komplott gegen den Mittelpunkt Europas? Und die Spitze – wir liefen gleich hinaus um nachzuschauen – man hatte unser Wetter geklaut?! Und da wurden in den Medien Kinkerlitzchen wie die Aktivitäten der NSA breitgetreten, während in Wals-Himmelreich eine Weltverschwörung im Gange war?!
Als die Servus-Redakteure das Schreiben erhielten, waren sie wohl wie vor den Kopf gestoßen. Zerknirscht. Reuemütig – mit dieser Schuld muss man erst einmal leben können. Und man reagierte umgehend, setzte uns auf die Wetterkarte. Vielleicht ein bisserl zu klein ... Gab uns unser Wetter zurück!
Und nein, nein, nein – der Bürgermeister hätte nicht einfach nur zum Telefonhörer greifen und anrufen können, ohne die ganze Welt von seiner welthistorischen Tat – wahrscheinlich die bedeutendste seiner bisherigen Amtszeit – in Kenntnis zu setzen. Das war schon wichtig, denn wir sind doch bittesehr wer, sind voller Selbstbewusstsein, offen und urban, quasi das Stadt gewordene Gegenteil von provinziell und kleinkariert.
Wobei, eine Frage stellt sich schon: Wer zum Teufel zahlt jetzt eigentlich die Kosten für den Journalistenbesuch?