Haus mit Wow-Effekt
Text
Johannes Reichl
Ausgabe
Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich als kleiner Knirps auf meinem täglichen Schulweg die schwer in Mitleidenschaft gezogene Synagoge magisch in ihren Bann zog – da waren geheimnisvolle Schriftzeichen am Gebäude (hebräische, was ich damals freilich nicht wusste), die Fenster waren mit Brettern verschlagen, der Putz bröckelte, Tauben machten es sich nicht nur in der Nische unter den zwei Tafeln mit den 10 Geboten gemütlich, sondern bewohnten auch die Kuppel im Inneren, wie wir bei heimlichen Einstiegen in das devastierte Gebäude herausfanden. Alles atmete eine Aura des Mystischen, die der „Judentempel“, wie er im Volksmund genannt wurde, auch nach seiner Renovierung Anfang der 80er-Jahre nicht einbüßte. Nur, dass er ab dann außen in hellem Weiß erstrahlte.
Heute, gut 40 Jahre später, ist der Jugendstilbau für mich nach wie vor das schönste und faszinierendste Gebäude der Stadt, das im Inneren nicht minder zu beeindrucken weiß. Martha Keil, Leiterin des im Haus situierten Instituts für jüdische Geschichte Österreichs, nennt es den „WOW“-Effekt, „dem noch jeder, der zum ersten Mal hereinkommt, erlegen ist.“ Wie zur Bestätigung entschlüpft auch unserem Fotografen beim Blick in die hohe Kuppel ein „Wow“, was Keil schmunzelnd mit „Prüfung bestanden“ quittiert. Die Institutsleiterin selbst muss dabei als die gute Seele der Ehemaligen Synagoge bezeichnet werden, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen hat sie sich als Wissenschaftlerin mit ihrem Team unglaubliche Meriten um die Geschichtsaufarbeitung der jüdischen Geschichte Österreichs, und damit natürlich auch jener der St. Pöltner Gemeinde erworben, zum anderen hat sie aber auch das Gebäude selbst über die Jahre hinweg quasi am Leben und Laufen gehalten. „Ich bin hier ja auch so etwas wie akademische Hausbesorgerin“, lacht sie, weil sie stets die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien als Besitzerin alarmierte, wenn im Gebäude wieder einmal irgendwo ein Wasserfleck auftauchte, der die wunderschönen Schablonen-Malereien zu zerstören drohte, das Kuppeldach leckte oder etwas anderes in Mitleidenschaft gezogen wurde. „Wenn etwas saniert wurde, dann ja immer nur zitzerlweise“, oder – überspitzt formuliert – wenn Gefahr in Verzug bestand. „Nach der Renovierung in den 1980ern gab es ja nicht einmal ein konkretes Nutzungskonzept!“, so Keil. Tatsächlich und verständlicher Weise war das Interesse seitens der IKG an einem Bau, der keine Gemeinde mehr beherbergte und nicht mehr religiös genutzt wurde, ebenso endenwollend wie die „Begeisterung“ der Stadt für einen Veranstaltungsort, der aufgrund diverser Einschränkungen für diese weltliche Nutzung nur bedingt geeignet war.
Glücksfall 2024
Die Folge war eine „stiefmütterliche Behandlung“, mit der nun aber Schluss zu sein scheint, „weil offensichtlich auch das längste Provisorium irgendwann ein Ende findet“, wie Keil erleichtert feststellt. So wurde die Ehemalige Synagoge dieses Jahr in die NÖ Museums Betriebs GmbH eingegliedert und damit Teil der mächtigen NÖKU-Familie, welche die Landeskulturbetriebe umfasst. Mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien wurde ein neuer, langfristiger Bestandsvertrag abgeschlossen „und damit alles auf ein neues Fundament gestellt.“
Dieser Schritt muss als direkte Folge von St. Pöltens Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 angesehen werden. Zwar musste die niederösterreichische Kapitale bekanntermaßen Bad Ischl den Vortritt lassen, dennoch hielten Stadt und Land an einer Reihe von Projekten, darunter auch der Renovierung und Neuadaptierung der Ehemaligen Synagoge, fest, was zudem vom Bund unterstützt wird. „2024 war so betrachtet DIE Chance des Jahrhunderts!“, ist Keil überzeugt, wobei sie dies durchaus auch in einem übergeordneten Sinne begreift. „Mir gefällt der Gedanke, dass gerade die Ehemalige Synagoge ein verbindendes Element zwischen Stadt, Land und Bund darstellt.“ Die Zusammenarbeit zwischen besagten Körperschaften war in der Vergangenheit ja nicht immer die beste, nun ziehen aber alle an einem Strang – was Keil an ein Zitat der St. Pöltner Holocaustüberlebenden Rosl Lustig-Kubin erinnert, die anlässlich der erstmaligen Einladung durch das offizielle St. Pölten 1998 meinte: „Better late than never!“
Barrierefrei
Die Auswirkungen des neuen Deals sind schon ersichtlich. So zeugt etwa eine kleine Baugrube im Garten der Synagoge von archäologischen Grabungen, die sehr zur Freude von Stadtarchäologen Ronald Risy gleich die Ostmauer des Vorgängerbaus zutage förderten. „Der schloss direkt an die neue Synagoge an und bringt damit eine schöne historische Kontinuität zum Ausdruck“, findet Keil. Von dieser West-Seite aus wird in Hinkunft der Hauptzugang erfolgen, und zwar über einen neuen Anbau, der zugleich ein Aufenthaltsfoyer, Kassen, WC-Anlagen etc. umfassen wird. Während das Synagogen-Innere aus Denkmalschutzgründen praktisch nur in Spurenelementen adaptiert werden darf – etwa im Hinblick auf Heizung, Beleuchtung, Ausstellungsarchitektur etc. – wird vom Kantorhaus in der Lederergasse aus ein neuer Außenlift dafür sorgen, dass man via kleinem, an die Synagoge andockenden Gang barrierefrei ins Gebäude gelangt. „Damit sind wir endlich für alle Besucherinnen und Besucher zugänglich, was dem Grundgedanken des Hauses als ‚Haus der Versammlung‘ gerecht wird!“, freut sich Keil.
Festival, Veranstaltungen und Neuaufstellung
Noch mehr – so hat es zumindest den Anschein, weil man ihren Enthusiasmus richtiggehend spürt – scheint sich die Wissenschaftlerin aber auf die neuen inhaltlichen Möglichkeiten und die teilweise Neupositionierung des Hauses zu freuen. „Als wissenschaftliches Institut, das im Haus situiert ist, werden wir natürlich verstärkt unsere Expertise, etwa im Hinblick auf die Vermittlungstätigkeit einbringen“, so Keil. Zudem wird die Institutsleiterin den Prozess auch als Kuratorin federführend begleiten. „Aktuell sind wir mitten in der Brainstorming-Phase, da sprühen nur so die Funken, jeden Tag kommt jemand mit neuen Ideen!“, schwärmt sie. Einige Schwerpunkte kristallisieren sich freilich schon heraus. So ist ab 2024 ein neues, im Idealfall sich jährlich wiederholendes jüdisches Kulturfestival geplant. „Das wird sich aber nicht nur in Klezmer-Musik erschöpfen“, lacht Keil, „sondern wir wollen alle Facetten jüdischer Kultur präsentieren!“ Und da auch nicht nur, überspitzt formuliert, den üblichen Mainstream „sondern es soll durchaus exklusiv werden. Mir gefällt in diesem Zusammenhang die Herangehensweise des Festspielhauses – die bringen im Tanzbereich tolle, einmalige Produktionen nach St. Pölten, die nicht in Wien laufen, und haben so ein unverwechselbares Profil entwickelt.“
Veranstaltungen jeder Art, von Konzerten über Symposien bis hin zu Lesungen, werden wie schon bisher ebenfalls Teil des Jahresprogramms sein, das schwerpunktmäßig übrigens in den Monaten April bis Oktober laufen wird, „weil das Heizen des riesigen Baus auch nach der Sanierung eine Herausforderung bleibt.“ Die Veranstaltungen selbst müssen dabei gar nicht immer in einem jüdischen Kontext stehen, „wichtig ist vielmehr, dass sie ein hohes Niveau aufweisen und zum Charakter des Hauses passen – denn alles kann man hier natürlich nicht machen“, so die Kuratorin.
Einen weiteren wichtigen Schwerpunkt bildet die Ausstellungstätigkeit. Zum einen wird man wie bislang bei großen, übergeordneten historischen Schauen der Stadt – etwa in Partnerschaft mit dem Haus der Geschichte Niederösterreich oder dem Stadtmuseum St. Pölten – die jüdischen Aspekte aufarbeiten und in der Synagoge präsentieren, zum anderen wird aber auch die Dauerausstellung über die jüdische Gemeinde St. Pölten sowie die Synagoge selbst neu aufgestellt. Keil möchte diesbezüglich sozusagen das Haus selbst sprechen lassen, „also etwa anhand der wenigen Ritual- und Erinnerungsgegenstände, die wir noch haben – das meiste wurde ja zerstört oder gestohlen. Oder gerade umgekehrt anhand der Dinge, die nicht mehr da sind – wenn ich etwa an die Lücke im Foyer denke, wo einst das rituelle Handwaschbecken stand – Geschichten erzählen, welche ihrerseits die jüdische Kultur begreifbar machen und das reichhaltige, bunte Leben, das einst hier herrschte, ebenso vermitteln wie das Grauen der Vernichtung der jüdischen Gemeinde.“ Keil spricht in diesem Zusammenhang von „Einflugschneisen“, welche die Besucherinnen und Besucher quasi verführen und in Folge stärker in die Materie hineinziehen sollen, „denn es kommt ja nicht jeder aus historischem Interesse. Einige bewundern vielleicht die Architektur des Baus oder sind fasziniert von den Wandmalereien. Wieder andere waren beim Vorbeigehen vielleicht einfach neugierig, wie das Gebäude im Inneren aussieht. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie dieser Raum in den Bann zieht.“ So dass sie in Folge mehr darüber erfahren möchten und über die Menschen, die ihn mit Leben erfüllten, sowie die Tragödie ihrer Vernichtung.
Genau diesen Spagat möchte Keil schaffen, möchte die jüdische Kultur und Geschichte in ihrer Gesamtheit vermitteln. „Die Kinder erfahren das Jüdische heute in der Schule ja meist nur mehr über zwei Pole – Moses und Hitler – dazwischen ist praktisch nichts. Aber es ist natürlich unendlich vieles dazwischen, und genau das möchten wir bewusst machen.“ Aus diesem Grund wünscht sich die Direktorin auch, „dass die Schülerinnen und Schüler in Hinkunft auf ihrer Pflichtfahrt ins KZ Mauthausen auch bei uns in St. Pölten Station machen, wo wir über Kultur, Lebendigkeit, Buntheit der jüdischen Gemeinde erzählen und ihnen einen anderen Blickwinkel neben dem Holocaust vermitteln, aber gerade im Kontrast dieses Lebendigen zur grausamen Vernichtung den wahnsinnigen Verlust und die furchtbare Tragödie begreifbar machen.“
Und so steht zu hoffen, wird ab 2024 (2023 bleibt die Synagoge geschlossen) das jüdische Leben in die Stadt zurückkehren, wenn auch nur temporär, wie etwa Anfang diesen Jahres, als über 60 Angehörige ehemaliger St. Pöltner Juden, die meisten aus Israel, der Steinlegung für ihre vertriebenen und ermordeten Verwandten beiwohnten „und in den Straßen den Kaddisch sangen, Hora tanzten und die Stadt in positivem Sinne in Beschlag nahmen.“
Die jüdische Gemeinde in St. Pölten wurde vernichtet, die Erinnerung daran darf aber nicht verloren gehen, ja sie muss im wortwörtlichen Sinn am Leben erhalten bleiben. Die Ehemalige Synagoge wird ab 2024 dieses Erbe hochhalten und einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.
Quellen & weiterführende Links
DIE IKG ST. PÖLTEN
Die Errungenschaften der Revolution von 1848 ermöglichten Juden freie Niederlassung und in der Folge auch eine Gemeindegründung. Die meisten jüdischen Einwanderer kamen aus Böhmen, Mähren und Westungarn (heute Burgenland) nach Niederösterreich, sie sprachen Deutsch und waren religiös traditionell, aber nicht orthodox.1863 wurde die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) St. Pölten offiziell gegründet. Ihr Einzugsgebiet reichte von Traismauer im Norden bis St. Aegyd am Neuwald im Süden und von Krummnußbaum im Westen bis Hadersdorf-Weidlingau im Osten. Mit Stand November 2020 sind 1.045 Personen im Umfeld der IKG St. Pölten namentlich bekannt, die zwischen 1938 und 1945 auf Grund der „Nürnberger Rassengesetze“ verfolgt wurden. 577 Personen davon lebten im März 1938 auf dem Gebiet der IKG St. Pölten, von diesen wurden 321 in der Shoah ermordet, 214 konnten entkommen, bei 42 weiteren ist das Schicksal unbekannt. Nach dem Krieg kehrten nur wenige Familien nach St. Pölten zurück, zu einer Neugründung der Gemeinde kam es nicht mehr. Heute lebt nur noch ein einziger St. Pöltner Jude in der Stadt, alle anderen wurden ermordet und vertrieben.
DIE SYNAGOGE ST. PÖLTEN
Die St. Pöltner Juden hielten ihre Gottesdienste zunächst in einem als Bethaus adaptierten Raum der damaligen Gasser-Fabrik ab. Von 1885 bis 1913 diente ein Gebäude an der heutigen Dr. Karl Renner-Promenade, westlich des jetzigen Standorts, als Synagoge, das soeben durch eine Grabung erschlossen wurde. Am 20. Juni 1912 wurde nach den Entwürfen der Architekten Theodor Schreier und Viktor Postelberg mit dem Bau der Synagoge begonnen, die am 17. August 1913 ihrer Bestimmung übergeben wurde.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 drangen mehrere Personen in das Kantorhaus neben der Synagoge ein, legten Feuer und zerschlugen die Fensterscheiben. Am Vormittag des 10. November wurde das Innere der Synagoge unter dem Absingen politischer Lieder vollständig zerstört. Die Fenster wurden eingeschlagen, die Inneneinrichtung und die Thorarollen verbrannt, Wasserleitungsrohre, Beleuchtungskörper und Türpfosten aus den Wänden gerissen. Bücher und Akten wurden auf die Straße geworfen, mit Benzin übergossen und unter Bravo-Rufen verbrannt. Im Mai 1940 zog die SA-Standarte 21 in das Kantorhaus ein. Im Jahr 1942 diente die Synagoge als Auffanglager für „russische Zivilpersonen“, die als Zwangsarbeiter eingesetzt waren. 1945 wurde das Gebäude zusätzlich durch Bombenangriffe beschädigt. Nach Kriegsende war die Synagoge Möbellager, Getreidespeicher und Taubenschlag und verfiel zusehends. Nach Abrissplänen Ende der 1970er Jahre stellte das Bundesdenkmalamt das Bauwerk unter Denkmalschutz. Von 1980 bis 1984 wurde die Synagoge soweit wie möglich originalgetreu renoviert und dient seither als Gedenkstätte und Veranstaltungsraum. Im Kantorhaus ist seit 1988 das Institut für jüdische Geschichte Österreichs untergebracht. Im Rahmen des Kulturschwerpunkts „St. Pölten 2024“ beschlossen Bund, Land und Stadt St. Pölten eine barrierefreie Sanierung und Adaptierung des Gebäudes für einen modernen Kulturbetrieb.
GEDENKEN
Seit 2018 wird der ermordeten St. Pöltner Jüdinnen und Juden durch in den Gehsteig eingelassene Messingplatten vor deren ehemaligen Wohnsitzen gedacht. Bislang wurden 53 solcher „Steine der Erinnerung“ für 104 Menschen gelegt. Heuer werden zudem sieben Steine der Erinnerung in Wilhelmsburg angebracht. Im Zuge der Steinsetzungen sind stets Angehörige der Opfer eingeladen – im Laufe der Jahre konnte das Institut für Geschichte der Juden Österreichs so bereits über 200 Mitglieder von aus St. Pölten vertriebenen jüdischen Familien ausfindig machen. Nach jahrelangem Hin und Her wurde heuer zudem zwischen Stadt St. Pölten und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien endlich eine neue Instandhaltungsvereinbarung hinsichtlich der Betreuung des jüdischen Friedhofs St. Pölten abgeschlossen. Diese umfasst nicht nur die gartentechnische Betreuung des Areals, sondern es werden auch die Grabsteine am Friedhof renoviert.