MFG - Der Morgenstern geht nicht unter
Der Morgenstern geht nicht unter


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Der Morgenstern geht nicht unter

Text Johannes Reichl
Ausgabe 12/2023
Es ist ein großes Privileg und eine unglaubliche Bereicherung für mein Leben, immer wieder verschiedenste Persönlichkeiten interviewen zu dürfen. Einer der beeindruckendsten Menschen, dem ich derart begegnen durfte, war ohne Zweifel Hans Morgenstern, der am 24. November verstorben ist. Er war dies nicht nur aufgrund der furchtbaren Wucht seiner schicksalhaften Lebensgeschichte, die mit dem Tod naher Verwandter im KZ, Flucht nach Palästina sowie Rückkehr in die „Nazi-Heimat“ belastet war, sondern insbesondere aufgrund seines humanistischen, ja fast übermenschlichen Umgangs damit. Denn trotz allem, was die Nazis und ihre Sympathisanten den Juden angetan hatten, ließ er sich die vielleicht größte aller menschlichen Leistungen nicht von ihnen rauben – er konnte verzeihen – und obsiegte gerade deshalb über sie.
Die Vorstellung einer Kollektivschuld lehnte er kategorisch ab. „Manche Nazis haben eingesehen, dass es ein Fehler war – das kann ich verzeihen“, bekannte er und versuchte sogar so etwas wie Verständnis aufzubringen. „Viele haben in gewisser Weise nichts dafür können, denn sie sind von Klein auf so sozialisiert worden. Es zeigt einfach nur, dass der Mensch eben doch nicht so frei ist, wie wir uns das wünschen würden.“ Zugleich stellte er aber auch unmissverständlich klar: „Wer heute noch ein Nazi ist – das ist unverzeihlich!“ Aus der individuellen Verantwortung konnte sich niemand davon stehlen.
Dabei haben die Nazis den Opfern ein lebenslanges Thema aufgezwungen – die eigene Geschichte sowie die Gewissheit eines unwiederbringlichen Verlustes.
Hans Morgenstern erging es da nicht anders. Schon früh begann er, sich auf die Suche nach den Mitgliedern der ehemaligen jüdischen Gemeinde St. Pöltens zu begeben, trug Lebensgeschichten und Bilder zusammen und versammelte all dies in einem Album, als wollte er ein Stück Heimat, Familie zurückgewinnen. „Da war immer ein Gefühl von Trauer in mir, auch eine gewisse Einsamkeit, dass es hier keine jüdische Gemeinde mehr gibt.“
Wie kein anderer kämpfte er gegen das Vergessen an. So ist es nicht zuletzt Morgensterns nimmermüdem Engagement zu danken, dass die Synagoge nicht geschleift wurde, und auch die Errichtung einer Gedenktafel für die St. Pöltner Holocaust-Opfer ging auf seine Initiative zurück.
Dieser „Wiederherstellungsversuch“ endete freilich nicht auf lokaler Ebene, sondern Morgenstern spürte dem Jüdischen, den Juden und ihren Leistungen weltweit nach. Im Laufe der Jahre trug er so über 6.000 Lebensgeschichten zusammen, die 2011 als „Jüdisches Biographisches Lexikon“ erschienen. „Ich habe das nie verstanden – die Juden haben einen so bedeutenden Beitrag für die Gesellschaft geleistet, aber trotzdem wurden sie ausgerottet. Warum? Waren sie wirklich so niederträchtig, so minderwertig? Und natürlich wusste ich, dass sie es nicht waren – aber dieses Abarbeiten war so, als wollte ich mich dessen versichern, als wollte ich den Gegenbeweis antreten.“
2013 titelten wir das Portrait über Hans Morgenstern mit „Der Letzte Jude“, denn das war er tatsächlich, der letzte lebende St. Pöltner, der in den Geburtsmatriken der Israelitischen Kultusgemeinde eingetragen worden war – danach blieben die Seiten leer. Nun ist auch dieses letzte Mitglied verstorben. Aber auch wenn Morgenstern einmal fatalistisch anmerkte „Ich habe keine Kinder. Vielleicht will ja der Liebe Gott, dass es aufhört. Ich weiß es nicht“, so steht fest, dass wir seine Geschichte, die Geschichte seiner Gemeinde und damit unsere eigene weitererzählen werden. Die Geschichte über einen großen und weisen Menschen. Ein Vorbild! Es mag ihn am Ende seines Lebens – nicht mit Genugtuung, in derlei Kategorien dachte er nicht – aber sicher mit Freude erfüllt haben, dass die Ehemalige Synagoge aktuell millionenschwer zum Kultur- und Ausstellungszentrum umgebaut wird, um in Hinkunft nicht nur ein Ort der Erinnerung zu sein, sondern vor allem auch einer, wo das jüdische Leben in seiner Vielfalt gefeiert wird. Der Morgenstern geht nicht unter!