MFG - Der junge Hitler
Der junge Hitler


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Der junge Hitler

Text Christian Rapp
Ausgabe 09/2020

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Adolf Hitler und die Nationalsozialisten haben diesen ebenso zu verantworten wie die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden, von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen, hunderttausenden Zwangsarbeitern, Roma und Sinti, Widerstandskämpfern und vielen anderen. Schätzungsweise mehr als 60 Millionen Menschen wurden weltweit Opfer eines „totalen Krieges“, des Massenterrors und des systematischen Genozids.

Das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich fragt in der aktuellen Ausstellung nach den Anfängen: Woher kommen Nationalismus und Militarismus, Rassenhass und Antisemitismus? Wieweit sind sie in der Gesellschaft bereits verankert, ehe der Erste Weltkrieg ausbricht und die Nationalsozialisten aufsteigen.
Die Ausstellung erzählt parallel zum einen die Biografie Hitlers, zum anderen gesellschaftliche Strömungen, die ihn und seine Zeitgenossen vor 1914 geprägt haben. Kausale Zusammenhänge zwischen rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Aussagen dieser Epoche und Hitlers Ideologie werden nicht erzwungen, aber sie liegen doch reichlich nahe.
1945 – und der Weg dorthin
Am Beginn der Ausstellung steht das Jahr 1945, der Zerstörungshorizont als Konsequenz von Krieg und Völkermord. Dann schwenkt die Erzählung um auf das Jahr 1889 und zeigt wesentliche Ereignisse und Akteure dieses Wendejahres: Die Pariser Weltausstellung mit dem Eiffelturm, den Machtwechsel in Deutschland, das Erfolgsjahr der österreichischen Arbeiterbewegung und Bertha von Suttner, die 1889 ihr Buch „Die Waffen nieder!“ veröffentlicht. Es geht aber auch um das fetischistische Verhältnis vieler Menschen zu „Volk“ und „Nation“: Frauen und Männer als „Germanen“ verkleidet, stramme – und meist antisemitische – Turner, die in Runenschrift korrespondieren; Kitschobjekte, mit denen man – auch in Österreich – dem „Blut- und Eisenkanzler“ Bismarck gedenkt; und schließlich Objekte aus dem Nachlass des radikalen deutschnationalen Parteigründers Georg von Schönerer, der den Hass auf die Slawen und Antisemitismus zu den Pfeilern seiner Politik gemacht hat – und als politisches Leitbild Adolf Hitlers gilt.
Militarismus, Rassismus und Antisemitismus
Trotz gelegentlicher pazifistischer Losungen tendiert die Welt um 1900 zu kriegerischen Idealen. Der Sieg über die Franzosen 1870/71 und die Befreiungskriege gegen Napoleon bestimmen die nationale Erinnerungskultur. Kriegsverherrlichung und Heldenverehrung finden nicht zuletzt auf dem „Kampffeld Schule“ statt. Schulwandtafeln eines Klassenzimmers nehmen darauf Bezug. Ein Kraniometer, ein Gerät zur Vermessung von Schädeln, verkörpert die fragwürdigen Methoden der sogenannten Rassenkunde. Eugenik, Biologismus und Sozialdarwinismus erleben vor dem Ersten Weltkrieg eine erste Blüte. In seinem in Wien geschriebenen Bestseller „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ verarbeitet Houston Stewart Chamberlain rassistische Ideen zu einer kruden Weltgeschichte. Aber auch Friedrich Nietzsche und seine Ideen vom „Willen zur Macht“, von heroischen Über- und Herrenmenschen, die Verachtung alles Schwachen und Kranken gehören unter Intellektuellen zum gesellschaftskritischen Diskurs.
Bühnenmodelle zu „Rienzi“, „Tristan und Isolde“ und „Rheingold“ aus dem Wiener Theatermuseum dokumentieren die Wagner-Verehrung der Jahrhundertwende. Die unter der Leitung von Gustav Mahler entstandenen Aufführungen hat Hitler in der Hofoper gesehen. Immer wieder gibt es Verschränkungen zwischen „moderner“ Form und „reaktionärem“ Inhalt, etwa in der schön gestalteten Jugendstilausgabe eines Werkes des völkischen Schriftstellers Guido List.
Viel Platz ist dem Antisemitismus und seinen vielfältigen Ausformungen in Österreich-Ungarn, aber auch Deutschland und Frank-reich gewidmet. Eine Aufstellung antisemitischer Äußerungen zeitgenössischer Politiker zeigt, wie früh Gewalt- und Vernichtungsfantasien bereits ausgesprochen worden sind.
Von der Welteroberung zum Weltkrieg
„Welt“ ist ein Schlüsselbegriff vor 1914. Die Welt wird aufgeteilt, Weltstädte kämpfen um Prestige, die Welt wird klein und eng. Die imperialistische Welteroberung der Zeit wird eine „Volksbewegung“. Wenn es innenpolitisch kriselt, werden außenpolitische Erfolge angestrebt – etwa durch neue Kolonien und auf Kosten der kolonisierten Völker, gegenüber denen sich auch der „kleine Mann“ stets „überlegen“ fühlen kann.
Überlegenheitsgefühle und imperiale Machtansprüche sind eine der Ursachen, die im Sommer 1914 zum Ersten Weltkrieg führen. Es sind junge Männer bürgerlicher Herkunft, die den Kriegsbeginn begeistert begrüßen und freiwillig zu den Waffen greifen – unter ihnen Adolf Hitler. Im Weltkrieg kulminiert der verheerende Zeitgeist der Epoche.
Keine heile Welt
In die großen Strömungen der Zeit eingebettet, verfolgt man in der Ausstellung die Biografie Adolf Hitlers von seiner Geburt bis zu seinem 25. Lebensjahr. Hier wurde besonders großer Wert daraufgelegt, die Berichte von Zeitzeugen kritisch zu hinterfragen und jeweils die Quellen offenzulegen. Der Beginn des biografischen Teils der Ausstellung beschäftigt sich mit der komplizierten Familiengeschichte Adolf Hitlers. Ein Taufbuch des Pfarrarchivs Döllersheim klärt etwa die Frage, wie aus seinem Vater Alois Schicklgruber Alois Hitler wurde. Das Kapitel erzählt von einer nachgiebigen Mutter und einem streng autoritären Vater. Dieser ist Zollbeamter, weshalb die Familie häufig ihren Wohnsitz wechselt. Maßgeblich sind für Hitler seine Jahre in Linz, wohin die Familie nach dem Tod des Vaters übersiedelt. In der dortigen Realschule ist Adolf Hitler wenig erfolgreich. Bleibenden Eindruck hinterlassen die deutschnational gesinnten Lehrer an der Linzer Realschule. Zeitzeugen berichten von ihrem ehemaligen Mitschüler Adolf Hitler.
Der einzige Freund
Mit 16 verlässt Adolf Hitler die Schule ohne Abschluss und beginnt eine Art Selbststudium. Eine geregelte Arbeit lehnt er ab und träumt stattdessen von einem Leben als Kunstmaler. Zum wichtigsten Zeitzeugen für die Jahre 1905 bis 1908 wird sein Freund August Kubizek, aus dessen Nachlass Originalobjekte in der Ausstellung gezeigt werden. Kubizek und Hitler verbindet ihr Interesse für Musik und ihre Begeisterung für Richard Wagner. Der Traum vom Kunststudium in Wien platzt 1907, als Hitler die Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste nicht besteht. Im ausgestellten Prüfungsprotokoll ist die Beurteilung „ungenügend“ vermerkt. Nach dem Tod der Mutter bricht Hitler 1908 endgültig nach Wien auf. Seine Waisenrente und ein Darlehen seiner Tante ermöglichen ihm zunächst ein unbeschwertes Leben. Als August Kubizek von einem nie realisierten Opernprojekt Richard Wagners erzählt, will Hitler diesen Plan – trotz fehlender musikalischer Ausbildung – selbst umsetzen. Erstmals wird in der Ausstellung ein Notenblatt gezeigt, auf dem die beiden jungen Männer die germanische Sage von „Wieland dem Schmied“ zu vertonen versuchen.
Politische Leitbilder
Politisch ist Hitler v. a. von zwei Persönlichkeiten beeinflusst: dem erwähnten Georg von Schönerer und dem charismatischen christlichsozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Adolf Hitler in Wien einem antisemitischen Verein beitritt, der versucht, die Ziele dieser beiden Politiker in Einklang zu bringen. Als Hitler ein zweites Mal an der Akademie der bildenden Künste abgelehnt wird, taucht er unter: In der Ausstellung ist der letzte Brief zu sehen, den er seinem Freund August Kubizek schreibt, bevor Hitler ohne eine weitere Nachricht aus der gemeinsamen Wohnung auszieht. Mit dem Schwinden der finanziellen Rücklagen beginnt Hitlers Abstieg. Er muss immer billigere Quartiere beziehen und ist schließlich im Herbst 1909 gezwungen, im Meidlinger Obdachlosenasyl zu übernachten.
Im Männerheim
Ab 1910 stellt sich in Hitlers Leben eine gewisse Stabilisierung ein – wenn auch auf niedrigem Niveau: Er bezieht eine Schlafkabine im Männerheim in der Wiener Meldemannstraße und hält sich durch das Anfertigen von aquarellierten Stadtansichten über Wasser. Dass er seine Bilder auch an jüdische Geschäftsleute verkauft, steht nur scheinbar im Widerspruch zu seinen antisemitischen Ansichten.
Mit seinem 24. Geburtstag erhält Hitler seinen Teil am väterlichen Erbe ausbezahlt. Er übersiedelt nach München. Der Umzug ins Deutsche Reich dürfte auch damit zusammenhängen, dass Hitler von den k.u.k. Behörden gesucht wird: Er hätte sich bereits 1910 zur Stellung melden sollen, hat das aber – wohl aufgrund seiner Ablehnung für die Vielvölker-Armee der Habsburger – unterlassen. Bei der Nachmusterung in Salzburg wird er wegen körperlicher Schwäche vom Wehrdienst befreit.
Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 nimmt Hitler, wie viele andere Menschen, mit Begeisterung auf. Er meldet sich freiwillig zur Bayerischen Armee und dient als Meldegänger an der Westfront. An diesem Punkt verschmelzen die beiden Erzählstränge der Ausstellung und es wird gezeigt, was es dem einzelgängerischen Sonderling ermöglichte, zum „Führer und Reichskanzler“ aufzusteigen, der die Welt in den Zweiten Weltkrieg stürzen sollte.

HITLER IN ST. PÖLTEN – 1920 UND 1938
Hitler besucht St. Pölten erstmals 1920 im Rahmen einer Wahlkampfreise für die damals noch unbedeutende nationalsozialistische Partei, die zur Nationalratswahl am 17. Oktober des Jahres angetreten ist. Einige Wochen zuvor hatten sich in Salzburg Nationalsozialisten aus Österreich, Deutschland und den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei auf gemeinsame Aktivitäten geeinigt. Die österreichischen Nationalsozialisten dürften dabei Hitler, den „Trommler“ der besonders lautstarken bayrischen Partei gewonnen haben, sie im bevorstehenden Wahlkampf zu unterstützen. Hitler sagte zu und reiste zwei Wochen lang durch Österreich, am 6. Oktober war er in St. Pölten. Thema seiner Reden war v. a. die Lage im „Deutschen Reich“. Es ging um den vermeintlichen „Niedergang“ Deutschlands nach dem Friedensvertrag von Versailles, seine unfähigen politischen Führer und warum sich eine Partei wie die NSDAP bilden musste. Hitler versuchte diese als linke Partei zu positionieren und verstand sich selbst als „Arbeiterführer“. Ein wahrer Sozialist müsse eben auch Nationalist sein, international seien nur die Feinde der Arbeiterschaft, „das Kapital“ und „das Judentum“. Sozialdemokraten und Kommunisten wären daher Verräter der Arbeiter. Hitler wusste, dass im Publikum auch Sozialdemokraten oder Kommunisten sitzen, manche von ihnen hielten Gegenreden. Es kam immer wieder zu Wortgefechten und kleineren Zwischenfällen, aber er blieb Herr der Lage.  
Saalschlacht mit den „Roten“  
In St. Pölten liefen die Dinge etwas anders. Es war die einzige Arbeiterstadt, in der Hitler als Redner auftrat. Die hiesigen Sozialdemokraten besetzten einen Großteil der Sitzplätze in den Stadtsälen. Hitler begann auch hier seine Rede mit den „Schandverträgen“ von Versailles. Dann kam er zu jenem Abschnitt seiner Ansprache, in dem es um die Abgrenzung von den „internationalen“ Arbeiterparteien geht. Es rumorte im Saal und wurde immer lauter, sodass Hitler nicht mehr zu verstehen war. Heinrich Schneidmadl, sozialdemokratischer Stadtrat, stand auf und erwiderte, dass Österreich von den Nachkriegsverträgen kaum weniger betroffen wäre als Deutschland, aber dass am Krieg der deutsche Nationalismus mitschuldig sei. Danach eskalierte die Situation, sowohl Nationalsozialisten als auch Sozialdemokraten stürmten die Bühne und eine Rauferei begann. Schneidmadl nahm, nach eigener Aussage, Hitler zur Seite, um ihn vor der Wut der eigenen Parteigenossen zu schützen. Er wollte vermeiden, den Gegnern einen „willkommenen Beweis sozialdemokratischer Unduldsamkeit“ zu liefern. Hitler ergriff noch einmal das Wort und zog kurz daraufhin mit etwa 100 Parteigängern ab.
Trotz solcher Vorfälle sind Hitlers Auftritte in Österreich durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen. Vor allem in bürgerlichen Kreisen war man begeistert, schwärmte von seinen „glänzenden Ausführungen“, und „würdig verlaufenen“ Veranstaltungen. Im „St. Pöltener Tagblatt“ hieß es: „Wir gestehen offen, dass Herrn Hitlers Darlegungen einen strahlenden Licht- und Höhepunkt in dem sonstigen Wahlredengequatsche bedeuten.“
Persönlicher Erfolg 1938
Die Wahlen am 17. Oktober 1920 waren trotz Hitlers Unterstützung für die österreichischen Nationalsozialisten nicht gut ausgegangen. Aber die Stimmenzahl hat sich fast überall dort, wo er aufgetreten war, deutlich erhöht. In St. Pölten hat sie sich verdoppelt. Zurück in München wird Hitler seinen Parteigenossen erzählen, dass Österreich sich völlig in jüdischer Hand befände. Aber sich selbst und seiner Partei hat er bewiesen, dass er einen Wahlkampf führen und auch jenseits von Bayern beträchtliche Erfolge als aufpeitschender Redner erzielen kann.
Viele Jahre später, am 14. März 1938 kam Hitler neuerlich nach St. Pölten, diesmal als umjubelter Triumphator, um den „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich zu vollziehen. Auf dem Weg nach Wien fuhr er mit seinem Tross in die Stadt ein, speiste im Hotel Pittner zu Mittag und ließ sich, aus dem Fenster grüßend, von der Menge feiern. Hinter den Kulissen ging es weniger feierlich zu: Nazis hatten schon seit Tagen politische Gegner attackiert, jüdische Geschäfte beschmiert und verwüstet, deren Inhaber misshandelt, Jüdinnen und Juden auch in deren Wohnungen verprügelt und beraubt.
Und doch stimmten dem „Anschluss“ viele Menschen zu, die einst Hitlers vehemente Gegner waren. So auch Heinrich Schneidmadl. Er, der 1920 überzeugt war, den „nationalsozialistischen Eroberungszug“ verhindert zu haben, er, dem niederösterreichische Nazis im Landtag 1932 drohten, dass sie „Leute wie ihn eines Tages hängen werden“, er empfiehlt, ebenso wie Karl Renner, bei der Volksabstimmung im April über den „Anschluss“ mit „Ja“ zu stimmen.

ZUM AUTOR
Christian Rapp leitet das Haus der Geschichte im Museum Nieder­österreich. Gemeinsam mit Hannes Leidinger hat er ein Buch zum frühen Hitler verfasst: „Hitler – prägende Jahre: Kindheit und Jugend 1889 – 1914“.

DER JUNGE HITLER.
Prägende Jahre eines Diktators. 1889 – 1914
Sonderausstellung im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich, noch bis 24. Jänner 2021