MFG - Zügel für die Tangente?
Zügel für die Tangente?


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Zügel für die Tangente?

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2023

Noch im März führten wir mit Christoph Gurk, damals künstlerischer Leiter des „Tangente Festivals“, ein umfassendes Interview – Didi Kühbauer würde im Rückblick sagen: „für die Würst“.


Denn drei Monate später flatterte unter dem vermeintlich harmlosen Titel „Tangente St. Pölten – Personelle Veränderung“ eine APA-Aussendung in die Redaktion, die es in sich hatte: „Der Vertrag mit Christoph Gurk wurde wegen unauflösbarer Differenzen zwischen der Geschäftsführung der NÖ Kulturwirtschaft GesmbH und dem künstlerischen Leiter in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst.“ 
Damit hatte auch St. Pölten, das bislang mitunter selbstgefällig und mit einem Schuss Schadenfreude auf die „Chaospartie“ in der kommenden Europäischen Kulturhauptstadt 2024 Bad Ischl verwiesen hatte, seinen ersten prominenten Abgang zu vermelden. In der gemeinsam akkordierten Presse-Aussendung wurde einander dennoch wohlhöflich gedankt, Gurk wünschte alles Gute und mit Tarun Kade wurde zudem ein neuer dramaturgischer Leiter präsentiert. Alles eitel Wonne also?

Scheinbar nicht, denn im August folgte der nächste Knalleffekt. Das Kollektiv ENDBOSS, bis dahin mit der Entwicklung des Festivalzentrums betraut, ließ per facebook-Posting wissen: „Wir hören auf.“ Auch in diesem Fall war von „unvereinbaren Unterschieden mit der Leitung der NÖKU“ die Rede, die Protagonisten beklagten eine „Beschränkung der künstlerischen Freiheit“ und deuteten politische Einflussnahme an, die mit den eigenen „Grundprinzipien“ nicht vereinbar sei, welche da lauten: „Lass dich gut für deine Ideen bezahlen, aber niemals gekauft werden [sic!]“ Ob es nun eher an der Bezahlung oder am Gefühl des Gekauftwerdens scheiterte – who knows. Als Beobachter der Szene fragte man sich jedenfalls: Was ist da los bei der Tangente, zumal das Kulturgroßprojekt – zumindest nach außen hin – bislang nicht so recht vom Fleck zu kommen schien, obwohl Gurk bereits seit 2020 daran arbeitete, von einer emotionalen Bindung zur indigenen Bevölkerung ganz zu schweigen. Natürlich hätten wir gerne erfahren, welcher Natur die kryptisch formulierten „unüberbrückbaren Differenzen“ denn nun konkret waren, die Betroffenen zeigten sich aber nicht weiter auskunftsfreudig. „Nachdem meine Tätigkeit als künstlerischer Leiter für die Tangente zu Ende gegangen ist, bemühe ich mich, Abstand zu gewinnen und den Blick nach vorne zu richten. Von daher habe ich beschlossen, keine Interviews in dieser Angelegenheit zu führen“, ließ etwa Christoph Gurk wissen. Und auch Endboss gab sich zugeknöpft: „Von unserer Seite haben wir mit dem Post grundsätzlich erstmal alles gesagt.“ Als Neuigkeit verriet man lediglich, dass man die Nutzungs- und Bearbeitungsrechte des für das Festivalzentrum entwickelten Konzeptes „exklusiv an die Leute von KulturhauptSTART“ übertragen habe, „weil wir es gut und folgerichtig fänden, wenn der lokalen Kulturszene ein wesentlicher Gestaltungsanteil in diesem hochdotierten Festival zukäme.“ Was die damit genau anfangen sollen, erschließt sich dem unbedarften Beobachter nicht wirklich, weil nach der Endboss-Absage – wie auch die Stadt St. Pölten mitteilt – andere zum Zug kommen: „Vor dem Hintergrund der Planungen des neuen Festivalzentrums in der Linzerstraße gibt es mehrere Bewerbungen. Die Anzahl der möglichen Ausführenden hat sich nun verkleinert.“
Ansonsten wollte auch die Stadt über das bisher Gesagte hinaus nicht mehr verraten, hielt aber auf Nachfrage explizit fest: „Die künstlerische Freiheit wurde nie eingeschränkt! Die GmbH wurde auch aus Gründen der Unabhängigkeit jeglicher Art gegründet.“ 
 
BOSS statt Endboss
Mit der GmbH ist die NÖ Kulturlandeshauptstadt GmbH gemeint, die für die Durchführung des Tangente Festivals sowie den Betrieb des Kinderkunstlabors gegründet wurde. Gesellschafter sind zu 50 % die Stadt St. Pölten, zu 35 % die NÖKU und zu 15 % die NÖ Werbung. Die GmbH selbst wiederum ist Teil der großen NÖKU Holding, die mittlerweile 30 der größten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen des Landes Niederösterreich unter ihrem Dach vereint. Und deren Geschäftsführer, quasi der Boss der Bosse, ist Paul Gessl. Bei ihm lande ich auch in dieser Causa unweigerlich – obwohl es eigentlich eine eigene Geschäftsführung der Tangente gibt. Für langjährige Kulturbeobachter keine allzugroße Überraschung, denn immer wenn ein NÖKU-Projekt aus dem Ruder zu laufen oder zu stottern scheint, nimmt der Boss himself die Zügel stärker in die Hand, um – in diesem Fall – das 16 Millionen schwere  potenzielle „Kultur-Rennpferd“ namens Tangente (so hoch ist das reine Programmbudget) auf Kurs zu halten bzw. überhaupt erst darauf zu bringen. Für Gessl logische Konsequenz der Strukturen: „Wir sind als NÖKU ja selbst Mit-Gesellschafter in der GmbH, und es ist unsere Pflicht und ursächlichste Aufgabe, dass wir unser Know-how und unsere jahrzehntelange Erfahrung einbringen – es wäre ja Wahnsinn, wenn wir bei der Tangente quasi mit allem bei null anfangen.“ 
Im Kern befinde man sich gerade in der Phase, „neue Organisationsstrukturen und Standards zu implementieren – in den neuen Häusern wie Kinderkunstlabor oder Synagoge ebenso wie bei der Tangente. Wir sprechen da am Ende des Tages von 150 Dienstnehmern!“ Für die gelte es Dienstverträge abzuschließen, ebensolche mit Künstlern zu vereinbaren, es gehe um Fragen wie fair pay, employer branding, compliance, um Wissenstransfer bis hin zu Hilfe in Fragen der IT, Homepage, Datenschutz und vieles mehr. Kurzum, könnte man zusammenfassen, bei aller künstlerischen Ausrichtung um big business. „Dass es bei einem Projekt dieser Größenordnung nicht immer nur Happiness geben kann und Personen im Laufe des Prozesses kommen und gehen und auch nicht alles, was man sich vornimmt, immer genauso gelingt, liegt wohl auf der Hand. Am Ende des Tages geht es um das große Ganze, da lassen wir uns von Einzelentscheidungen nicht irritieren“, gibt sich der Kulturmanager betont gelassen.
Dass diese Entscheidungen teils mit dem Vorwurf politischer Einflussnahme und Beschränkung der künstlerischen Freiheit einhergehen, kann Gessl nicht nachvollziehen. „Ganz ehrlich, ich sehe das sehr pragmatisch. Wir arbeiten mit Steuergeld, da haben wir eine dementsprechende Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler, dieses transparent, effizient und sparsam im Sinne der Kunst einzusetzen. Das hat nichts mit Kontrolle zu tun, auch nichts mit Einschränkungen, und schon gar nichts mit politischer Intervention, sondern schlicht mit klaren Rahmenbedingungen und einer effizienten Struktur, die für jeden Gültigkeit hat. Wer das nicht versteht, der kann nicht unser Partner sein.“ 
Auch ein künstlerisches Führungsvakuum nach dem Abgang Gurks, in dem quasi jeder einzelne Kurator jetzt ob einer fehlenden letztverantwortlichen künstlerischen Leitung machen kann, was er will, und damit Chaos und Konflikte vorprogrammiert sind, befürchtet Gessl nicht. „Halten wir fest: Das Programm und die kulturpolitische Strategie wurden von Christoph Gurk entwickelt und stehen. Auch die Finalisierung und Umsetzung wurden von Gurk eingeleitet. Von daher gibt es keine Gefahr der Verwässerung oder irgendwelche Unklarheiten.“ Mit Tarun Kade wurde zudem ein dramaturgischer Leiter als eine Art primus inter pares installiert, „der die Entscheidungen der Kuratoren koordiniert, in künstlerischen Fragen ein Einspruchsrecht hat und als Sprachrohr der Kunst nach innen und außen fungiert.“ 
Laut Gessl laufe jedenfalls alles nach Plan, und spätestens mit der Domplatzeröffnung Anfang September werde die Tangente auch kommunikativ stärker in die Offensive gehen. „Allein der Umstand, wie schnell die Tickets für die Domplatz­eröffnung weg waren, belegt doch, dass die Leute neugierig und offen für die Tangente sind!“ Am 30. September wird dann – ebenfalls am Domplatz – die erste künstlerische Intervention erfolgen, „und im November präsentieren wir das Gesamtprogramm für 2024“, skizziert der Kulturmanager die nächsten Schritte. Zugleich verweist er auf „harte Fakten: Das Kinderkunstlabor steht schon und nimmt Gestalt an. Die Synagoge wird bereits umgebaut. Der Domplatz – und da bitte ich abzuwarten, was er zu leisten imstande ist, bevor man schimpft – wird seiner Bestimmung übergeben. All dies passiert, jetzt, und das sind keine Eintagsfliegen, sondern sie tragen nachhaltig dazu bei, St. Pölten als Zentrum der Kunst- und Kulturvermittlung in Europa zu positionieren. Wir schaffen hier gemeinsam etwas, das weit über 2024 hinausreichen wird. Und – das ist meine absolute Überzeugung: Das größte Bundesland braucht ein starkes Herz, braucht eine starke Hauptstadt! Kultur hat da eine wichtige Rolle zu spielen und kann einen wichtigen Beitrag leisten!“