MFG - 30 Jahre St. Pöltner Fußballwunder VSE
30 Jahre St. Pöltner Fußballwunder VSE


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

30 Jahre St. Pöltner Fußballwunder VSE

Text Thomas Schöpf
Ausgabe 09/2018

„Es ist so klar wie a Eis und Schnee, da regiert der VSE!“, schallte es zwischen der Handel-Mazzetti-Straße und dem Spratzerner Kirchenweg weit über den Hammerpark hinweg, dass der Traisenpavillon noch bebte, ehe ihn die Rapidler verwüsteten.1988 war der St. Pöltner Voith Platz der Nabel der österreichischen Fußballwelt. Die Fans pilgerten in Scharen auf den Bauschutt-Haufen und feierten „El Matador“ und Co.

Keine Handys, kein Social Media, keine TV-Livespiele und maximal drei Legionäre pro Klub. Die Securitys hießen Ordner, trugen meist neonfarbige Westen und waren  Respektspersonen. Selbst jener, den sie „Öli“ nannten, der Jahre später beim SKN St. Pölten vom Parkplatzeinweiser zum VIP-Klub-Ordner aufstieg und LH Erwin Pröll wissen ließ: „Wenn’s was brauchen. Da bin i der Chef ...“
Begrüßt wurde das Publikum am Voith Platz von Sprecher Fritz „The Voice“ Dibidanzl stets auf das „Aller-Allerherzlichste“, vor allem die „liebe, liebe Jugend.“ Die zahlte 70 Schilling Eintritt für „Ermäßigte“. Der Vollpreis für die überdeckte Tribüne betrug 140 Schilling. Mit dem (pipileicht zu fälschenden) Schülerausweis war man sogar um 10 Schilling mit von der Partie – als der VSE St. Pölten dieser Tage, vor 30 Jahren, mehrere Wochen an der Spitze der österreichischen Bundesliga thronte. Aber Vorsicht – ohne Kontroll-Kupon war die Eintrittskarte ungültig! „Die Eintrittskarte ist bis zum Ende des Spieles aufzubewahren und über Verlangen vorzuweisen“, stand auf dem dünnen Papierwisch. Die Abos waren schon aus Karton, per Zange wurde das entsprechende Spiel weggelocht oder mit dem Kuli weggekreuzt. Chips gab’s auf den Karten noch keine, sondern nur zum Essen von „Kelly’s“. Der Renner war damals aber die Knacker um 20 Schilling. Der „Wolfburger“ wurde erst später erfunden.
Rosamunde
Direkt hinter dem Nord-Tor spielte oft einer mit der „Quetschn“ – am liebsten „Ro-sa-munde – shalah lalalah lalah!“ Die Fans begrüßten ihre Nummer 1, Michael Paal, lautstark mit „Mi-cha-el! Mi-cha-el!“-Rufen und den gegnerischen Keeper noch inbrünstiger mit „Ei-er-goalie! Ei-er-goalie!“ Wenn es gut lief, und es lief fast immer gut, erhoben sich die „VSE-Senioren“ und stimmten „Olé, Olé, Olé, Olé – immer wieder VSE“ an. Zwischendurch ertönte aus den Lautsprechern: „Kabel-TV, Kabel-TV, der Hit mit Satellit! Auch Thomas Parits sieht Kabel-TV.“ Die Fans bekundeten dann: „Everybody loves Thommy Parits, Thommy Parits! Du bist ja unser Held.“ Der burgenländische Erfolgscoach hatte sich zum Glück für die „Wölfe“ zuvor mit Austria-Legende Joschi Walter über keine Vertragsverlängerung mehr einigen können und wechselte deshalb nach St. Pölten. In der Regionalliga-Zeit war übrigens noch ein gewisser Antonin Panenka der beworbene Kabel-TV-Seher gewesen. „An-tonin! An-tonin!“
El Matador
Der Dreh- und Angelpunkt des St. Pöltner Fußballwunders hieß Mario „El Matador“ Kempes – der argentinische Weltmeister und WM-Torschützenkönig von 1978 – der 1987 mit 33 Jahren bei den „Wölfen“ in der 2. Liga anheuerte. Das ist in etwa so, als hätte sich Cristiano Ronaldo (33) im Sommer nicht für Juventus sondern für den Kapfenberger SV entschieden. Kempes stand freilich vorher bei der Vienna unter Trainer Ernst Dokupil am Abstellgleis. Der ehemalige VSE-Präsident Helmut Meder erinnert sich: „900.000 Schilling hat der Mario gekostet. Den Transfer haben wir mit seinem Freund und kurzzeitigen VSE-Trainer Pepi Schulz und einer Dolmetscherin im Stüberl in der Prandtauerhalle abgewickelt. Viele haben mir abgeraten. Er hatte einen ganz schönen Bauch. Aber unter Trainer Parits ist er wieder aufgeblüht.“
Parits und Hubert Baumgartner (erst VSE-Tormann, dann Tormanntrainer und Trainer) sprachen mit Kempes Spanisch. „Wir Spieler unterhielten uns auf Englisch mit ihm“, erzählt Paal. „Es gab kein einziges Spiel, in dem er sich runtergelassen hat. Beeindruckend war, dass er uns Wald- und Wiesenkicker nie spüren hat lassen, dass er besser ist. Im Fußball habe ich viele Leute kennengelernt, die geglaubt haben sie sind etwas Besseres, waren aber nix. Kempes war nicht nur besser, er war Weltklasse“, sagt Paal, der heute am Magistrat St. Pölten arbeitet.
Scherbs Karriere-Highlight
Der spätere Landesliga-Bomber und SKN-Erfolgstrainer Martin Scherb (derzeit ÖFB-U19- und U15-Teamchef) scherzt sogar, dass eine Begegnung mit Kempes sein „Karriere-Highlight“ war. Scherb schoss als Teenager beim SC St. Pölten alles kurz und klein und wurde von Parits auf die „Rennbahn“ – wo heute das Regierungsviertel steht – zum VSE-Probetraining eingeladen. „Beim Schusstraining hat Kempes direkt vor mir einen Ball knapp vorbei geschossen, danach ich meinen, und das auch noch weit hinter das Tor. Als ich weglaufen wollte, um ihn zu holen, dreht er sich um, deutete, und sagte ,Warte Junge, Mario holt Ball‘. Der Weltstar zum Jungspund.“
104 Bierfässer
Kempes leitete den Erfolgslauf in der Saison 1988/1989 auch höchstpersönlich mit seinem Goldtor zum 1:0-Heimsieg im ersten Bundesliga-Spiel des VSE gegen Rapid ein. 104 Fässer Egger-Bier (à 50 Liter) leerten die Fußballfans an jenem heißen Juli-Tag am Voith Platz. Am Ende des Grunddurchgangs (22 Spiele) hatte Kempes als Regisseur neun Treffer auf seinem Konto. Der Drei-Mann-Sturm Ernst Ogris (RIP), Franz Zach und Slobodan Brankovic („Heut’ gemma wieder Branko-Schauen“) schrieb 21 Mal an. Dokupils Vienna zerlegten sie nach einem 0:0 zur Pause noch mit 6:1! „Drei Stürmer, das war revolutionär“, erinnert sich Paal. „Für mich war das normal“, sagt Parits, „das habe ich auch anderswo spielen lassen und hat hier am besten gepasst. Mindestens ebenso wichtig waren natürlich auch die Abwehrriegel wie der Poldi Rotter.“ Pendant Hans-Peter Frühwirth war für den späteren VSEler Frenkie Schinkels der härteste Gegenspieler und Mitspieler, den er je hatte. „Der hat dich einfach immer umgerannt“, so Schinkels, „sogar im Training!“
In der „Kronen Zeitung“ wurde der VSE das ein oder andere Mal als „FC Kempes“ betitelt. Einmal zeichnete der ORF seine gesamte „Sport am Montag“-Sendung beim Egger-Werk auf und widmete dem St. Pöltner Fußballwunder 50 Sendeminuten. Mit von der Partie damals im Braustüberl auch Flankengott Rudi Steinbauer, alias „Turbo-Rudi“, der nach wie vor in St. Pölten lebt. RTL stattete Kempes in dessen Wiener Wohnung einen Besuch ab, ließ sich vom „El Matador“ bekochen und drehte eine Reportage über den ehemaligen Valencia-Star.
VSE war Fanmagnet
Nicht zuletzt wegen des riesigen Erfolgs war der VSE nach dem FC Tirol unter Trainer Ernst Happel (mit Hansi Müller, Peter Pacult und Co.) eine Zeit lang Österreichs größter Zuschauermagnet. Während zu Rapid in der Zeit nicht einmal 4.000 Besucher ins Hanappi Stadion kamen, pilgerten nach der Aufstiegssaison durchschnittlich fast 7.500 Fans zu den VSE-Heimspielen. Bei der Flutlichtpremiere gegen die Austria Mitte September 1988 waren es 12.500 – Rekord! Obwohl drei Tage vorher gegen Tirol auch schon 10.000 da waren.  „An dem Tag haben wir über eine Million Schilling eingenommen. Hauptsächlich in kleinen Scheinen“, lacht Meder, „Herr Totzer und Frau Gruber vom Sekretariat sind dann gleich mit mehreren Aktentaschen voller Geld mitten durch die Leute rüber zur Sparkasse.“
Dabei standen die Fans am ursprünglich ebenerdigen Voith Platz auf Bauschutt. „Immer wenn ich irgendwo bei einer Baustelle vorbeigefahren bin, habe ich den LKW-Fahrern einen Hunderter gesteckt und hab sie gebeten, den Schutt zum Voith Platz zu führen“, erzählt Meder. Den legendären Graben ließ er anlegen, damit die „Leute nicht wie Affen am Zaun hängen mussten, wie wir es aus Steyr kannten.“
Reiselustig waren die VSE-Fans auch. Zum Spitzenspiel bei der Austria fuhren über 5.000 hin und das Horr Stadion war im August 1988 gegen St. Pölten mit 12.000 Besuchern  ausverkauft! Das gelang den „Violetten“ danach 11 Jahre lang nicht mehr. „Die Fans waren ein Wahnsinn“, sagt auch Didi Ramusch, der von 1989 bis 1994 die rechte Außenbahn beackerte, „ich habe nur schöne Erinnerungen. Der Funke ist immer wieder übergesprungen.“ Heute arbeitet der bald 49-Jährige auf der PVA in St. Pölten. „Meine Frau hat mir versprochen, dass sie mich meine gesamte Karriere lang überallhin begleitet. Ich musste ihr dafür versprechen, dass wir danach in St. Pölten bleiben“, erzählt Ramusch und scherzt, „als Kärntner musst du das einmal verkraften. Aber mittlerweile komme ich ganz gut zu Recht.“
Für Meder waren Ramusch (um 2,5 Mio. Schilling von Austria Klagenfurt) und Paal (um zwei Millionen von Sturm, wo er sich mit Otto Konrad matchte), „meine besten Transfers.“ Die beiden schwärmen im Gespräch mit dem MFG ebenso über den „Macher“ und „Anpacker“ Meder. Paal hält außerdem noch fest: „Er hatte auch noch große Ahnung vom Fußball. Das gibt’s bei den Präsidenten heutzutage ja gar nicht mehr.“
Parits meint rückblickend sogar: „Es deprimiert mich fast ein wenig, wenn ich sehe, wie wenig Zuschauer der SKN in dem schönen Stadion hat. Aber vielleicht dauert es einfach noch. Derzeit sind sie ja auf einem guten Weg.“ Bei der VSE-Trainerlegende ist gar nicht so sehr der Erfolgslauf vom Herbst 1988 hängen geblieben: „Richtig schön war, dass wir es zwei Mal hintereinander ins Meister-Playoff geschafft haben. Und im zweiten Jahr auch schon junge Spieler wie Martin Prikop, Reinhard Waltenberger, Hannes Weber und Thomas Scherzer einbauen haben können.“ Danach sah Parits den Plafond erreicht und bat Meder um eine Vertragsauflösung. „Ich bin täglich von Siegendorf durchs Helenental nach St. Pölten gependelt, 250 Kilometer. Die A21 hat es noch nicht gegeben. Und ich bin schon zwei Mal mit dem Auto nur recht knapp einem Unfall entronnen.“
Ihm folgte ausgerechnet Dokupil als Trainer. Kempes war im Nu beim Kremser SC.  Dokupil hielt sich gerade zwei Monate im Sattel und wurde von Baumgartner abgelöst, unter dem der VSE auch noch schöne Erfolge feierte. An den Erfolgslauf mit Kempes konnten die „Wölfe“ aber nie wieder auch nur annähernd anknüpfen.