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MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

There is a house...

Text Johannes Reichl
Ausgabe 10/2009

...am Mühlweg Nr. 62, das Kongresszentrum der Zeugen Jehovas. Unzählige Male bin ich daran vorbeigefahren, mich fragend, was dort eigentlich vor sich geht. Nach Anerkennung der Zeugen Jehovas als offizielle Religionsgemeinschaft, nach einem gefüllten Happel-Stadion im Sommer war es Zeit, dem endlich auf den Grund zu gehen. Ein Lokalaugenschein.

Kurt Binder und Paul Zagler empfangen mich vorm Eingang. Binder, 74 Jahre alt, ist Vollzeitprediger zugleich auch „Hausherr“ – er wohnt direkt im Kongresszentrum. Eleganter Anzug, Krawatte. Philosophen-Glatze. Er würde genauso gut als Bankbeamter oder Anwalt durchgehen.
Franz Michael Zagler wiederum ist „Ältester“ der Gemeinde Amstetten, zugleich Pressebeauftragter der Zeugen Jehovas. Beruflich ist er Gebietsleiter einer Schwimmbadüberdachungsfirma. Zu einem Hausrundgang zeigte er sich sofort bereit, im Hinblick auf meinen Wunsch nach Begleitung der Zeugen Jehovas bei ihren Hausbesuchen winkte er allerdings ab: „Der Gottesdienst ist etwas sehr Persönliches. Das ist uns heilig.“
Dann eben „nur“ das Konferenzzentrum, das in seiner Klotzigkeit – vielleicht zusätzlich auch durch Vorurteile und Klischees gegenüber den Zeugen Jehovas gespeist – immer eine gewisse abweisende, geheimnisvolle Aura ausstrahlte.  So geheimnisvoll ist es dann aber gar nicht. „Hier war früher die Schüller Strumpffabrik“ erzählt Binder. In den 80’ern haben die Zeugen Jehovas das Areal gekauft. „Wir haben alles in mehrjähriger Bauzeit alleine aufgebaut“, fügt er nicht ohne Stolz hinzu, und es ist tatsächlich eine beachtliche Leistung. Im Übrigen auch ein Markenzeichen der Zeugen. „Wir machen alles in Eigenregie, auch die Erhaltung der Häuser!“
Nüchternheit
Drinnen setzt sich die nach außen getragene Nüchternheit fort. Kreuze („die verehren wir nicht!“) sucht man ebenso vergeblich wie Kerzen, Weihrauch, Kelche, Orgelmusik etc. Auf das ganze Brimborium kirchlicher Liturgie wird hier verzichtet, auch auf personaler Ebene: Binder etwa, der als Prediger wohl mit einem Priester vergleichbar ist, kommt ohne besondere Robe oder andere „Insignien“ aus. „Das ist bei uns anders strukturiert. Die Funktion an sich spielt keine Rolle, ich bin wie jeder Bruder, wie jede Schwester.“
Das einzige, was auf den religiösen Charakter des Gebäudes verweist, sind verschiedene Bibelsprüche, die auch direkt auf die Zeugen Jehovas rückschließen lassen. „Legt gründlich Zeugnis ab für die gute Botschaft“ ist da etwa links und rechts des Podiums des Königreichsaales (so werden die Versammlungsräume der Religionsgemeinschaft genannt, wo man sich in der Regel dreimal pro Woche trifft) zu lesen, und im großen Saal, der gar  Platz für 1.100 Leute bietet, prangt ein übergroßes „Wacht beständig!“
Und was passiert hier eigentlich? Für die insgesamt 139 bekennenden Zeugen Jehovas in St. Pölten wäre das Gebäude ja wohl ein bisserl überdimensioniert? „Wir wollen dem Auftrag Jesu nachkommen und die gute Botschaft unters Volk bringen. Die Leute werden deshalb weltweit geschult, um die Botschaft zu verkündigen. Für Österreich passiert das u.a. in St. Pölten. Es gibt Vorträge, Demonstrationen, Interviews etc. – in diesem Sinne ist das hier ein Schulungszentrum“, verrät Binder. Rund 40.000 Leute besuchen hier in St. Pölten alljährlich einen Kongress. Zuletzt nahmen rund 750 Zeugen Jehovas im September am Kongress zum Thema „Schütze deine geistige Gesinnung“ teil. Vorgetragen wird in bis zu acht Sprachen. Das verweist aber nicht etwa auf die Internationalität der Kongressteilnehmer, sondern trägt der Multinationalität der Zeugen in Österreich Rechnung.
Unterschiede
Im Zuge des Rundganges machen wir auch einen Sprung in den Keller, wo man sich mit einem Mal wie in einem Hallenbad im 80’er Retrolook wähnt. Braune Fliesen, Umkleideräume – das Rätsel löst sich rasch auf: Hier befindet sich das Taufbecken – Taufjacuzzi würde es besser treffen. Dem biblischen Vorbild gemäß wird der Täufling mit dem ganzen Körper untergetaucht. „Wir haben keine Kinder-, sondern eine Erwachsenentaufe!“, führt Zagler aus. Warum? „Als Kind ist man noch nicht reif. “ 
Auf kindgerechte Vorfeldorganisationen verzichten die Zeugen trotzdem. „Die Kinder begleiten ihre Eltern von Kleinauf, sind überall dabei, auch wenn sie anfangs noch nicht alles verstehen. So wachsen sie hinein“, meint Binder. Dass Züchtigung ein Erziehungsmodell der Zeugen Jehovas sei, wie man immer wieder liest, stellt Zagler in Abrede. „Abgesehen davon, dass körperliche Zucht in Österreich seit rund 15 Jahren per Gesetz verboten ist, versteht die Bibel unter dem Begriff ‚Zucht‘ eine Lenkung oder Führung. Dass zu diesem Programm auch vernünftige Regeln und Grenzen gehören, die dem Alter des Kindes angepasst sind und mit dem Reifeprozess in der Jugend mitwachsen, widerspricht sich nicht. Zuhören, Verständnis und Kommunikation sind die Eckpfeiler der biblischen ‚Zucht‘ – ‚Erziehung‘. Das macht der weise König Salomo in Sprüche 1:8 deutlich, wenn er sagt: ‚Höre, mein Sohn, auf die Zucht deines Vaters, und verlass nicht das Gesetz deiner Mutter.‘“ Nachsatz: „Höre, und nicht spüre!“
Und was, wenn ein Kind im Gegensatz zu den Eltern kein Zeuge Jehovas werden möchte. Ist das überhaupt denkbar, oder gibt es sozusagen Sippenhaftung? „Ich selbst war 16 Jahre, als ich mich habe taufen lassen. Dem ist eine lange Bedenkzeit vorangegangen, das ist ein Schritt, den man sich nicht einfach macht. Das braucht Überzeugung, innere Stärke, weil man sich auf einen Weg einlässt, der nicht leicht ist. Mein eigener Sohn hat sich mit 15 Jahren taufen lassen. Aber als Eltern hat man da keinen Einfluss.“ Und wie würde Zagler selbst reagieren, wenn sein Sohn den Zeugen Jehovas den Rücken kehrte?  „Wie in der Geschichte Jesu vom verlorenen Sohn, werde ich meinem Kind diese Willensfreiheit zugestehen, auf die jeder Mensch göttlichen Anspruch hat. Als aktiver Zeuge Jehovas verwende ich wöchentlich viele Stunden für Bibelkurse, Vorträge und mit Zeitzeugen der NS-Geschichte. Da wir diese Interessen nicht mehr teilen, werden wir gezwungenermaßen viel weniger Zeit miteinander verbringen als früher – die Interessen haben sich verlagert. Dennoch würde ich ihm stets, wie der Vater des verlorenen Sohnes, die Hand aufhalten, wenn er umkehrt.“
Und immer wieder die Bibel
So wie man die Taufe im biblischen Sinne wortwörtlich nimmt, werden sämtliche Lebensregeln wortgetreu, in diesem Sinne fundamental aus dem jahrtausendealten Buch abgeleitet. „Das unterscheidet uns von anderen Gemeinschaften. Wir richten uns nach dem Wort Gottes, nicht nach jenem der Menschen.“ Was im Umkehrschluss zu einem völlig antiquierten Weltbild führen muss. Aber die Zeiten haben sich doch geändert? „Ja, aber die Grundsätze sind dieselben geblieben. Gewisse Dinge passt man vielleicht an im Laufe der Zeit. Aber wir verletzen keinen biblischen Grundsatz!“, betont Zagler, und versucht die Grundeinstellung der Zeugen mit einem Vergleich nachvollziehbar zu gestalten. „Stellen wir uns ein Wohngebiet vor. Da kann ein Grundsatz sein, dass man so langsam durchfährt, damit niemand verletzt wird. Natürlich kann man irgendwann eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30km/h einführen – nur, die 30 km/h sind vielleicht schon zuviel, ein andermal wiederum könnte man ohne Bedenken auch schneller fahren. Relevant ist also letztlich, dass man sich an den Grundsatz hält – der bleibt derselbe!“ Ebenso ist Zagler überzeugt, dass auch die menschlichen Bedürfnisse in ihrer Grundessenz seit Jahrtausenden dieselben geblieben sind. Dass die Zeugen Jehovas da anders gepolt seien – bisweilen wird ihnen übermäßige Ernsthaftigkeit, Puritanität und Lustlosigkeit nachgesagt – stellt er lachend in Abrede. „Also, wir schätzen genauso gutes Essen, guten Wein, soziale Kontakte, sehnen uns nach Harmonie! Das Leben ist ein Geschenk, damit sorgsam umzugehen ist Ausdruck des Respekts. Ich betreibe daher keinen Risikosport, trinke nicht übermäßig Alkohol, nehme kein Nikotin zu mir – ich lebe vernünftig, bin ehrlich, so dass ich ein reines Gewissen habe.“
Trotzdem zeitigt die punktgenaue Auslegung der Bibel in gewissen Belangen ein reaktionäres Weltbild. So gilt Homosexualität als unnatürlich und Sünde, und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gibt es nicht. Die Kernbotschaft: Die Frau ist dem Mann Untertan. „Der Mann ist das Haupt der Familie. Die Frau ist die Gehilfin. Die Frau anerkennt ihre Stellung in Gottes Vorsatz. Die Frau fühlt sich nicht unterdrückt“, sagt der Mann Zagler und relativiert vermeintlich, auch wenn es letztlich nur Vorangesagtes unterstreicht. „Alle in der Familie sind stimmberechtigt. Aber einer muss dann letztlich die Entscheidung treffen. Das ist der Mann, das ist seine Verantwortung. Das ist wie bei einer Schiffsmannschaft. Der Mann ist der Kapitän.“ Nachsatz: „Ein kluger Ehemann wird immer die Meinung seiner Frau einholen.“ Tja, stellt sich die Frage, ob Männer immer so klug sind?!
Liegt man mit diesem reaktionären Mann/Frau-Bild auf einer Linie mit konservativen Strömungen in anderen Religionsgemeinschaften, so ist man im Hinblick auf Sexualität wiederum aufgeschlossener. „Wir mischen uns nicht ins Sexual- oder Familienleben ein, auch nicht ob Paare Kinder wollen oder nicht oder wie sie verhüten.“ Das heißt, man stößt sich nicht an Pille und Kondom wie etwa die römisch katholische Kirche? „Mit der Pille haben wir kein Problem. Mit der Pille danach aber schon. In jenem Moment, wo die Empfängnis stattfindet, ist Leben!“
Auch die Frage des Zölibats stellt sich bei den Zeugen Jehovas nicht. „Bei Timotheus stehen Regeln für einen verheirateten Bischof, und Petrus – der ja gern als erster Papst bezeichnet wird – hatte eine Schwiegermutter. Da werden also Menschengebote über Bibelworte gestellt“, so Zagler, der damit zusammenhängend negative Auswirkungen auf die Seelsorge wähnt. „Jemand, der verheiratet ist, predigt nicht nur nach reiner Theorie, sondern hat Einblick in die Familiensituation, in Finanzen. Aber durch den Zölibat hast du sozusagen null Zugang zur Praxis.“
Weitere fundamentale Unterschiede zu anderen christlichen Religionen, von der Liturgie abgesehen, gibt es in der Lehre selbst. So lehnen die Zeugen Jehovas etwa die Höllenlehre ab, für sie existiert nicht die heilige Dreieinigkeit Gottes, das Kreuz wird nicht verehrt (zudem hatten sie davon eine Vorstellung als einfacher Pfahl) und zu Gott (worin sie einen Titel, keinen Namen sehen) sagen die Zeugen Jehova. „In alten Bibeln steht noch der Name Jehova.“
Harmagedon
Gemeinsam ist die Vorstellung vom Weltuntergang, den die Zeugen aber radikal in den Vordergrund rücken, ja, der in ihren Augen – nachdem er schon mehrmals prophezeit und dann doch nicht eintreten wollte – seit 1914 als eingeleitet betrachtet wird. „Wir glauben, dass Gott eine Veränderung herbeiführen wird. Als Vorbild dient uns die Sintflut“, so Binder. Die Zeugen Jehovas wähnen sich freilich auf der sicheren Seite, weshalb der Gedanke an den Weltuntergang paradoxerweise sogar herbei ersehnt wird. „Wir erwarten die Gegenwart Gottes, haben Freude, wenn die Erde gerichtet wird. Es geht so zu in der Welt, gibt so viele Kriege, es passieren so grausliche Dinge. Gott wird die Bösen richten, und jene, die in Gottes Gunst stehen, werden überleben.“ Das sind im Umkehrschluss natürlich die Zeugen selbst. Ist das – wie es in allen Religionen üblich ist – also eine Art Exklusivrecht, Members only. Die Zeugen das auserwählte Volk, alle anderen hingegen nur niedriges Gewürm? Zagler formuliert es dialektisch: „Jeder, der in Gottes Gunst steht und nach der Bibel lebt, ist Zeuge Jehovas und wird überleben!“ Also auch jene, die sozusagen gar nicht wissen, dass sie in diesem Sinne Zeugen sind? „Endgültig entscheidet Gott, nicht wir Menschen. Es gibt einen Spruch: ‚Was du zu sein scheinst, beurteilt der Mensch. Aber was du bist, das entscheidet Gott.’
An der Front
Bis es soweit ist, versuchen die Zeugen ihre Mitmenschen quasi auf die gute Seite der Macht zu lenken. Und dies tun sie auf ihre ganz spezifische Art und Weise. Während Zeugen Jehovas mit dem Wachturm in der Hand aus dem öffentlichen Bild verschwunden sind (wer erinnert sich nicht an den legendären Franz Falkner, der tagein tagaus stumm vorm Hauptbahnhof stand, selbst menschgewordener Wachturm), setzt man vemehrt auf Bibeltonnen, „wo sich Interessierte anonym hinwenden und mit Informationsmaterial eindecken können.“ Die wichtigste Form der  „Öffentlichkeitsarbeit“ sind aber nach wie vor die Hausbesuche, DIE Trademark der Zeugen. „Wir sind ja bekannt dafür, dass wir den Leuten auf die Nerven gehen“, meint Zagler selbstironisch, fügt dann aber hinzu „Wir wollen weg vom Klischee, dass man die Zeugen Jehovas nicht mehr los wird, oder dass sie ein aggressives Vorgehen an den Tag legen. Natürlich gibt es auch Übereifrige, aber wir bemühen uns, wirklich gezielt zu schulen, dass man die Meinung der Leute akzeptiert, jemand im Stress nicht aufhält etc.“
Tatsächlich ist für die Zeugen Jehovas die Missionstätigkeit essentieller Bestandteil ihres Glaubens, darin besteht ihr ganz persönlicher „Gottesdienst“ – im übrigen ein verpflichtender für jedes Mitglied. Das jeweilige Gebiet ist in Rayons aufgeteilt, jeder für einen bestimmten Abschnitt zuständig. „Wir gehen von Haus zu Haus, um Gottes Königreich zu verkündigen! Die Botschaft ist: Es gibt einen Schöpfer, das ist Jehova. Wir wollen die Leute aufmerksam machen, dass Gott auf Erden sein Königreich wieder errichtet. Das ist eine gute Botschaft, die Hoffnung gibt!“, so Binder, der als „Marathonmann“ gilt. Er bringt es monatlich auf rund 130 Stunden! Zagler ist ebenfalls ein Fleißiger mit immerhin noch 70 Stunden. „Im Durchschnitt verwendet ein Zeuge Jehovas aber um die 8-12 Stunden im Monat darauf.“
Und wie geht man mit Ablehnung um? Sie werden ja nicht immer mit offenen Armen empfangen. Binder siehts pragmatisch. „Also in St. Pölten sind die Leute nicht so abweisend. Es kommt halt auch darauf an, wann man kommt. Wenn gerade ein Fest ist, wird man stören, oder wenn jemand gerade aus der Schicht nachhause gekommen ist. Dann gehen wir wieder und kommen später wieder, oder wir lassen Material zurück. Aber prinzipiell sind die Leute uns gegenüber nicht böse eingestellt. Was man eher merkt, ist ein allgemeines Desinteresse am Glauben.“ Was Zagler aber auch als Herausforderung begreift. Ja, er leitet davon auch einen Grundzugang zu seinem Glauben ab. „Ich habe oft den Eindruck, dass Gott auf der Anklagebank sitzt. Die Leute fragen mich ‚Warum müssen unschuldige Kinder sterben? Warum, gibt es soviel Leid in der Welt? Warum lässt Gott das zu?‘ Wir sind dann wie Zeugen vor Gericht, zeugen für Gott und machen klar, dass der Verursacher von Leid der Mensch ist. Gott hat uns den freien Willen gegeben.“
Prinzipiell orten die Zeugen Jehovas – wie andere Religionsgemeinschaften in der westlichen Hemisphäre – einen religiösen Erosionsprozess.  „Die Leute sind heute oft gestresst, sind unter Druck. Viele sind von der Religion enttäuscht, inhaltlich wie seelsorgerisch etc. Es ist oft kein Bezug mehr zur Religion, zu Gott da. Sie sind nicht in der Bibel geschult. Dabei ist ein Leben nach der Bibel aber gottgefällig und macht glücklich. Unseren Gottesdienst sehe ich daher auch als Fortsetzung der Apostelgeschichte. Die waren auch alles andere denn beliebt damals. Selbst Jesus ist man mit Argwohn begegnet.“
Jehovas und der Staat
Argwohn, den Binder vielfach auch am eigenen Leib erfahren hat. „In den 50’er Jahren bin ich in Pyhra sogar einmal verhaftet worden“, erinnert er sich. Im Laufe der Geschichte der Zeugen Jehovas steigerte sich der Argwohn mitunter auch zur offenen Verfolgung. Während des Nazi-Regimes wurden über 11.000 Zeugen Jehovas verhaftet, über 2.000 von ihnen kamen in Konzentrationslagern um. Ebenso wurden sie in kommunistischen Staaten verfolgt. „Wir lehnen den Wehrdienst ab, ebenso Kadergehorsam“, führt Binder aus. Eine prinzipielle Staatsfindlichkeit ist der Glaubensgemeinschaft aber nicht eigen. „Der Staat ist ja Dienerin Gottes. Soweit er von uns nichts verlangt, was der Bibel, was Gott widerspricht, anerkennen wir ihn. Wie sind natürlich froh über Rechtsvertretung, soziale Sicherheit, Schulen, Bildung, Rettung etc. Das alles beanspruchen wir auch, das wäre ja verrückt, es nicht zu tun!“
Manches lehnt man aber auch bewusst ab, wie etwa – ein Thema, das immer wieder für Kontroversen sorgt – Bluttransfusionen. „Blut steht für Leben. Lebensgeber ist Gott. Vollblut lehnen wir deshalb ab“, so Zagler und zeigt mir seine Patientenverfügung, wo dieser Wille festgehalten ist, so dass der behandelnde Arzt sofort Bescheid weiß. Die Zeugen lassen sich nur Blutersatzstoffe verabreichen. „Wir haben in Österreich ein Netz aufgebaut, das sogenannte Krankenhausverbindungskomitee, mit über 500 Ärzten, die blutlos operieren.“ Und wie ist das im Fall von Kindern, die in diesem Sinne nicht frei entscheiden können? „Entweder das Kind entscheidet selbst, wenn es mit dem Arzt spricht, oder es übernimmt das Gericht die Entscheidung. Ich möchte aber betonen, dass es in der österreichischen Geschichte der Zeugen Jehovas noch keinen einzigen Todesfall aufgrund der Verweigerung von Bluttransfusion gegeben hat.“
Vorurteile?
Alles also nur Vorurteile?  Ebenso wie die Punzierung als Sekte, oder wie Berichte ehemaliger Zeugen, wonach man sich von der Glaubensgemeinschaft nur schwer wieder lösen kann? „Wir Zeugen Jehovas verweigern den Wehrdienst, weltweit! Und dann heißt es, wir sind eine gefährliche, gewalttätige Sekte? Wie geht das zusammen?“, schüttelt Binder den Kopf. „Wir wollen den Frieden, und das verkünden wir auch! Wir sagen, wenn ihr euch nach der Bibel richtet, dann widerfährt euch Glück! Aber wir zwingen sicher niemanden! Dass man die Zeugen Jehovas nicht verlassen kann, ist Lügenpropaganda. Gott zwingt niemanden, an ihn zu glauben. Gott zwingt auch niemanden zu einem bestimmten Lebenswandel!“
Aber woher rühren dann in den Augen der beiden diese angeblichen Klischees und Gerüchte? „Es ist Angst vor dem Unbekannten, da werden Ängste geschürt und Lügen verbreitet“, so Zagler, und Binder ist überzeugt „dass vielen unsere Botschaft unangenehm ist. Die möchten nicht gegen Gott verantwortlich sein. Z.B. einer, der der Hurerei frönt, möchte dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Deswegen sucht er ein Haar in der Suppe.“
Dennoch kann man nicht abstreiten, dass viele ehemalige Mitglieder von einer schwierigen Loslösung sprechen und ebenso berichten, dass sie nach ihrem Ausscheiden bzw. ihrem Ausschluss (letztlich läuft es darauf hinaus), mit völliger Isolation bis hin zum Kappen sozialer Kontakte, selbst quer durch die Familie, bestraft wurden. „Zuerst möchte ich festhalten, wie es überhaupt dazu kommt, dass jemand von der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Ein Beispiel: Sie sind Mitglied eines Tennisvereins. Mit der Zeit beginnen Sie, sich über die Statuten dieses Vereins hinwegzusetzen. Sie spielen mit Straßenschuhen, ignorieren den Terminplan, beschimpfen andere Vereinsmitglieder und halten nichts von Platzpflege. Der Obmann spricht mit Ihnen – wiederholt. Er sorgt sogar dafür, dass sich andere Mitglieder Ihrer annehmen, und wählt solche, die einen besonderen Draht zu ihnen haben. Doch ihr Verhalten ändert sich nicht. Nach unzähligen Gesprächen, einer schriftlichen Verwarnung kommt das, was zum Schutz des Vereins und seiner Mitglieder kommen muss: Der Ausschluss. Ein Ausschluss aus der Gemeinde der Zeugen Jehovas hat ein ähnliches Prozedere. Man möchte niemand verlieren. So gesehen, kann sich der Betreffende durch sein Verhalten nur selbst ausschließen. Natürlich verändert eine solche Maßnahme sein soziales Umfeld. Wie beim erwähnten Tennisverein, werden frühere Kollegen nicht mehr den Kontakt zu ihm suchen – hat er doch ihre Bemühungen abgewiesen. Auch in der Familie herrscht Trauer über dieses bewusste Fehlverhalten des Besagten. Doch bleiben familiäre Verpflichtungen aufrecht, auch wenn sich die Intensität naturgemäß verändern wird.“
Fremdwort Ökumene
Dass man keine Sekte ist, steht von Staatseite her schon lange außer Streit. Seit Mai dieses Jahres zählen die Zeugen Jehovas sogar zum Kreis der 14 staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften in Österreich. Wie war das Echo darauf? „Es gibt Leute, die gratulieren uns und sagen ‚Herr Binder, das wurde auch schon wirklich Zeit.’ Für andere hingegen werden wir immer eine Sekte bleiben“, meint Binder emotionslos. Zagler hingegen freut sich, „dass damit eine 31jährige Wartezeit zu Ende geht. Wir sehen diese Anerkennung als Signal an die Bevölkerung, uns so wahrzunehmen, was wir wirklich sind – eine offene Gemeinschaft von Menschen, die biblische Werte auslebt. Ich hoffe, dass damit auch der Zugang zu uns entkrampfter wird.“
Seitens der anderen christlichen Religionsgemeinschaften (siehe Kasten) scheint dies unwahrscheinlich.  Die Skepsis gegenüber den Zeugen Jehovas ist groß, was umgekehrt genauso gilt. Auf Kommunikation wird von den Religionsgemeinschaften – die vermeintlich mehr verbindet, als trennt – kein Wert gelegt. „Ökumene ist eine schöne Worthülse. Das hat Sinn, wenn wir denselben Maßstab anwenden – ein solcher wäre die Bibel. Wenn aber jeder einen anderen Maßstab verwendet, dann kommen wir in der Lehre nicht zusammen! Wir verstehen die Ökumene auf einer anderen Ebene, von Mensch zu Mensch. Es geht, egal welcher Religion man angehört, um ein respektvolles, liebevolles, wertschätzendes Miteinander. Jesus ist auch zu den anderen gegangen!“
Freilich, ob er den Begriff der „anderen“ (in einem ausschließenden Sinne) überhaupt in seinem Denken verankert hatte oder gerade umgekehrt das Prinzip „vor Gott sind alle gleich“ lebte, mögen sich alle Religionsgemeinschaften fragen, die sich auf diesen Mann berufen.
Die Anerkennung
Nachdem die Zeugen Jehovas in den letzten Jahren bereits von Staatsseite als eingetragene Bekenntnisgemeinschaft eingestuft waren, wurden sie heuer als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt. Den Unterschied erläutert Mag. Peter Pitzinger von der Sektenstelle des Landes Niederösterreich. „Eine Bekenntnisgemeinschaft ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts und von der Qualität geringer. Diese eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften haben viele Rechte nicht, die den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften vorbehalten werden. Dazu gehört beispielsweise das Recht auf steuerliche Absetzbarkeit des Kirchenbeitrags, das Recht, Religionsunterricht abzuhalten oder die Betreuung von Strafgefangenen. Einzelne Rechte haben sich die Zeugen Jehovas bereits erstritten, weil sie sich sehr darum bemüht und engagiert haben. Die staatlich eingetragene Bekenntnisgemeinschaft ist schon ein gewisses Gütesiegel, da wird bereits geprüft, ob etwa Untersagungsgründe auftreten.“
Religionsgemeinschaften in St. Pölten (Volkszählung 2001)
Einwohner insgesamt    49.121
Römisch-katholisch    33.330
Griechisch-katholisch    14
Orthodox    540
Evangelisch    1.719
Andere christliche Gemeinschaften    428 (aktuell 139 Zeugen Jehovas)
Israelitisch    18
Islamisch    3.681
Andere nicht-christliche Gemeinschaften    103
Unbekannt    965
Ohne Bekenntnis    8.323 Die Zeugen Jehovas befanden sich 2001 im zusammengefassten Block „Andere christliche Gemeinschaften“. Zu diesem Bereich zählen auch die folgenden Gemeinschaften: altkatholisch, anglikanisch, methodistisch, baptistisch, evangelikal, freie Christengemeinden/Pfingstgemeinden, mennonitisch, Siebenten-Tags-Adventisten, Christengemeinde - Bewegung für religiöse Erneuerung, neuapostolisch, Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Was sagen die anderen großen christlichen Religionsgemeinschaften zu den Zeugen Jehovas?
Interview: Superintendent Mag. Paul Weiland:
Wie beurteilen Sie als Vertreter der Evangelischen Kirche in Niederösterreich allgemein die Anerkennung der Zeugen Jehovas als „staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft“?
Prinzipiell ist diese Anerkennung als staatlicher Akt zu betrachten, der natürlich in Ordnung ist, der Staat soll über Religion ja grundsätzlich nicht urteilen. Gerade in Österreich sind eine Vielzahl von Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkannt und ich denke, das trägt an sich zu einem stabilen Zusammenleben bei.
Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche Konsequenzen und welche Bedeutung diese Anerkennung haben wird. Dass die Zeugen Jehovas aus dieser Anerkennung jetzt auch quasi eine Rechtfertigung ihrer Lehre und ihres Tuns herauslesen, ist in der medialen Diskussion immer wieder zur Sprache gekommen, ich habe von den Zeugen Jehovas auch ähnliche Anklänge gehört. Das, denke ich, ist damit nicht ausgesprochen. Für die Beurteilung, ob eine Gruppe eine Kirche, eine Sekte oder etwas anderes ist, sind andere Kriterien anzuwenden, als die nach denen der Staat entscheidet, ob eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft gerechtfertigt ist. Was die inhaltliche Ausrichtung betrifft, hat sich nach meiner Meinung nichts geändert, das müsste man bei den entsprechenden Stellen erfragen, wenn Interesse besteht.
Interview: Diözesanbischof DDr. Klaus Küng:
Wie beurteilen Sie als Vertreter der Katholischen Kirche die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas?

Ich beurteile die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas mit Zurückhaltung, wegen ihrer überzogenen Ausrichtung auf ein baldiges Weltende, ihrer Art der Bibelauslegung und der aufdringlichen Werbung für ihre Gemeinschaft.
Sehen Sie die Einstufung der Zeugen Jehovas als staatlich anerkannte Glaubensgemeinschaft als gerechtfertigt an?
Ich gehe davon aus, dass die staatlichen Stellen die Voraussetzungen eingehend geprüft haben. Offenbar sind sie zum Ergebnis gelangt, dass diese gegeben sind.
Gibt es Kommunikation zwischen Ihnen und den Vertretern der Zeugen Jehovas in St. Pölten?
Es gibt eigentlich keine direkte Kommunikation.