MFG - Klebtomanie am Wirtshaustisch
Klebtomanie am Wirtshaustisch


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St. Pöltens gute Seite

Klebtomanie am Wirtshaustisch

Text Thomas Schöpf
Ausgabe 06/2006

Die Österreichische Nationalmannschaft schaut bei der WM zu. Fußballpickerl werden trotzdem gesammelt – und getauscht. Dabei entpuppt sich Rio Ferdinand als schwerer Junge.

321, 314, 298…Der Countdown läuft schon einige Minuten. Charly rattert Zahlen monoton herunter, die anderen am Tisch starren gebannt auf die vor ihnen liegenden Zettel mit Zahlenkolonnen. „274“ wiederholt Andi plötzlich die zuletzt genannte Zahl laut. Charly reicht ihm das Pickerl und setzt den Countdown fort. Es ist Freitag Abend und Tauschbörse im Wirtshaus.
Wobei sich das Tauschen nicht so einfach gestaltet. „Es gibt einen inneren Kreis von Leuten. Die haben alle die gleiche Anzahl von Pickerl gekauft und tauschen zuerst untereinander. Erst wenn niemand im inneren Kreis ein Pickerl braucht, darf es frei getauscht werden“, erklärt Organisator Charly. Er selbst hat das letzte Mal 1986 gesammelt. So wie für ihn ist für viele das Panini-Album ein Weg „back to the roots“. Mit dem Unterschied, dass man sich vor 20 Jahren fünf Schilling von den Eltern geschnorrt hat, um ein Packerl zu kaufen. Und getauscht wurde im Schulbus, nicht im Wirtshaus. Heute trägt man schon mal 20 Packerl auf einmal nachhause. „Das ist echt anstrengend am Anfang. Da sitzt man stundenlang und klebt ein“, erzählt Andi.
Hansi führt derzeit. Ihm fehlen nur noch neun Pickerl. Die Nummern sind fein säuberlich in einem Filofax eingetragen. Eine davon ist die 99. „Ein ganz schweres Pickerl.“ Tatsächlich klebt in keinem anwesenden Album der englische Verteidiger Rio Ferdinand. Anders verhält es sich mit Van Bronckhorst. „Den kann ich nicht mehr sehen“, so Charly.
Das Gegenteil von Hansi ist Dieter. Er hat mit dem Sammeln erst begonnen und nimmt es auch nicht so genau. Als er ein Mannschaftsfoto irrtümlich verkehrt herum einklebt, wendet sich Charly mit Grauen ab. „Ich kann nicht hinschauen.“ In seinem Album klebt alles in Reih und Glied. Um Mitternacht packen Andi und Charly ihre Alben noch einmal aus. Fast jedes Umblättern wird von einem zufriedenen „Fertig!“ begleitet. Aber egal, wie wenig Spieler auch fehlen mögen, in einem sind sich alle einig: Bei Panini direkt die letzten fehlenden Pickerl zu bestellen, das ist feig.


Die Panini Story

32 Länder nehmen an der Fußball-WM teil, in 110 Ländern wird geklebt. Die Panini-Pickerl-WM wird Deutschland wohl vor Mexiko und Italien gewinnen. Begonnen hat alles 1945 mit einem Zeitungsstand in Modena. Neun Jahre später gründeten die Gebrüder Panini einen Zeitungsvertrieb, heute ist die Paninigruppe (übrigens noch immer ein Familienbetrieb) weltweiter Marktführer im Bereich Sticker und Aufkleber.
Seit der Fußball-WM 1970 laufen die Pickerl-Maschinen im Vier-Jahres-Rhythmus auf Hochtouren. Heuer wurde schon über eine Milliarde Packerl produziert. Am meisten gepickt wird in Deutschland, Mexiko und Italien. Knapp vor der WM waren die Fans am fleißigsten, musste Panini täglich 65 Millionen Klebebilder drucken, um der Euphorie genüge zu tun. Für die emsigen Deutschen wurde extra noch das Jens-Lehmann-Pickerl nachproduziert; Panini hatte ja seine Kader rein wirtschaftstechnisch schon im Februar zusammenstellen müssen und setzte damals noch voll auf Oliver Kahn. Lehmann können die Deutschen nun über Kahn drüberpicken oder sinnigerweise über Sebastian Deisler, der gar nicht bei der WM dabei ist. Über einige weitere Fehler müssen Freaks großmütig hinwegsehen. So ist der Geburtsort von Alexander Frei, Basel, z. B. auch bei uns auf französisch (Bale) angegeben. Bei Edwin van der Saar ist er jedoch richtig, der kommt tatsächlich aus Voorhout.
Brösel gab’s mit dem englischen Verband, der seine Rechte an Panini nicht abtreten wollte, weshalb statt den „Three Lions“ im Wappen nun drei Fahnen wehen und die Kicker alle ein weißes T-Shirt anhaben.
Das hartnäckige Gerücht, dass manche (Ausnahme-)Kicker weniger oft gedruckt werden, dementiert Panini stets heftig. Richtig wertvoll sind freilich nur komplette Alben. Einerseits für die erfolgreichen Sammler, andererseits für diejenigen, die damit später vielleicht noch was verdienen wollen. Alben von 1970 und 1974 sind auf „ebay“ schon bis knapp an die 1.000 Euro hinauf lizitiert worden.