Wenn Menschlichkeit den Krieg vergessen lässt
Text
Andreas Reichebner
Ausgabe
Seit Putins „Spezialoperation“, die nichts anderes als ein abscheulicher Angriffskrieg ist, läuft, sind abertausende Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht aus den umkämpften Gebieten. Engagierte Menschen wie Barbara und Sarah Eichinger aus der Zivilgesellschaft in Pyhra und das Europaballett in St. Pölten sorgen mit solidarischen Handlungen dafür, dass Flüchtlinge nicht mehr um ihr Leben fürchten müssen und in Frieden leben können.
"Kommt sofort nach Pyhra“, erinnert sich die 42-jährige Ukrainerin Anna an den Wortlaut des besorgten Anrufes ihrer Bekannten Andrea aus der Ortschaft nahe St. Pölten. Es war der 27. Februar 2022, russische Angriffe rollten über die Ukraine, ihrem Heimatland, ihrer Heimatstadt Chmelinski, fünf Stunden von der polnischen Grenze entfernt. „Unser nächster großer Bahnhof war voll mit Menschen, alle wollten raus, nach Polen, weg von den Bomben. Wir wollten mit dem Zug via Ungarn nach Österreich“, erzählt Anna, die mit ihrer Tochter Kseniia am Bahnsteig von einem Bombenalarm überrascht wurde. „Wir konnten aber nirgends wo Unterschlupf finden, weil da so viele Menschen waren.“ Im dichten Menschengedränge mussten sie um ihr Leben bangen und hilflos warten, was passiert. Endlose Minuten, die man nie wieder vergisst. Die beiden hatten Glück, die Bomben verfehlten das Ziel, so ging es, lose kontrolliert in Ungarn, nach Österreich. Mutter und Tochter konnten Putins wahnsinnigem Krieg entfliehen. Die schöne Wohnung im Haus, das Annas Vater aufgebaut hatte, und der sauber gepflegte Garten mussten fluchtartig zurückgelassen werden. Die 15-jährige Kseniia sollte nicht in die Kriegswirren hineingeraten. „Meine Mama blieb zurück“, so Anna, die sich aber bald über das Nachkommen ihrer Mutter nach Österreich freuen durfte.
In Pyhra aufgenommen
Angekommen in Pyhra wurden die beiden für einige Zeit im Haus von Andrea untergebracht, nun leben sie in einer Wohnung im Dorf Wald bei einer anderen herzlichen Familie. Möglich gemacht haben das Sarah und Barbara Eichinger aus Pyhra. „Von der Gemeinde wurden Zettel ausgeteilt, dass sich russisch und ukrainisch sprechende Menschen zum Dolmetschen melden sollen“, erinnert sich Sarah, die wie ihre Mutter Barbara Russisch im Gymnasium und dann noch dazu auf der Uni gelernt hat. „Über die Andrea haben wir Kontakt zu den beiden aufgenommen, haben sie im Garten bei uns getroffen“, so Barbara, für die gleich feststand, großzügig Unterstützung anzubieten. „Es ist uns ein Bedürfnis, zu helfen, direkt und unmittelbar“, zeigt sich Barbara engagiert. „Wie ich die ersten Kriegsbilder im Fernsehen gesehen habe, ist für mich eine Welt zusammengebrochen“, erinnert sich Sarah, „was ist das für eine Welt, habe ich mir gedacht.“ Sarah gibt Kseniia und Anna Deutschunterricht, beide lernen schnell. Kseniia hat mittlerweile Sprachniveau B2 absolviert, geht in die NMS Pyhra, ist eine gute Schülerin und darf wahrscheinlich im Herbst ins Mary Ward-Gymnasium wechseln. Sie ist sprachbegabt und will Dolmetscherin studieren. Für das Schulgeld hat Barbara Eichinger eine Initiative bei ihren Bekannten gestartet, vier Jahre sind finanziert.
Wunderbare Menschen
„Die Familie Eichinger ist wunderbar, Sarah und Barbara sind für uns jederzeit erreichbar“, ist die Ukrainerin Anna, die es nicht verstehen kann, warum Russland auf die Ukraine schießt, voll des Lobes über ihre beiden Helferinnen. „Mein Papa stammt aus Russland, wir haben viele Verwandte in Russland. Wir sind dort immer wieder hingefahren“, ist Anna verzweifelt, weil sie von ihren russischen Cousinen und Tanten, getränkt von Putins Propaganda, nun hört, „dass die Ukraine schuld an diesem Krieg sein soll.“ Kseniia ist auch bestürzt: „Wir haben mit unseren Verwandten sogar gestritten, weil sie uns nicht glauben, dass unsere Stadt bombardiert wurde.“ Die zwei Ukrainerinnen verstehen die Welt nicht mehr: Ihr Heimatland, das gerade von Russland überfallen wird, soll der Aggressor sein? „Es gibt rund um unsere Heimatstadt so viele Begräbnisse von jungen Menschen“, ist Anna tieftraurig über die Berichte aus der Ukraine. Ihr Haus in Chmelinski ist auch schon mehrmals in den Bombenhagel gekommen, vieles wurde zerstört.
Bemüht und schon integriert
„Anna und Kseniia sind unglaublich bemüht und haben sich in Pyhra schon sehr gut integriert“, erzählt Barbara, während sich Sarah über die Chancenvernichtung einer ganzen jungen Generation in der Ukraine echauffiert: „Schade, dass so vielen begabten Schülerinnen und Schülern in ihrer Heimat die Möglichkeit genommen wird, eine fundierte Ausbildung zu machen.“ Mittlerweile sehen sich Kseniia und ihre Mama Anna die nächsten Jahre in Österreich lebend, wollen hier etwas leisten, sich etwas aufbauen. Anna, die in der Ukraine Einzelhandelskauffrau gelernt hat, würde gerne im Lebensmittelhandel arbeiten oder eine Pflegeausbildung machen, Kseniia möchte studieren. Obwohl sie mit ihrer Mutter gerne ukrainische Gerichte kocht, ist sie hier in Österreich besonders von der Frittatensuppe und dem Schweinsbraten mit Knödel oder Erdäpfelsalat begeistert. „Zu helfen ist wunderschön und dabei einen Austausch zwischen den Kulturen stattfinden zu lassen“, schwärmt Barbara, trotz des negativen Kriegshintergrundes, von der Begegnung mit den beiden Ukrainerinnen, „die beiden sind selbst so gastfreundlich und herzlich.“ Das kann Anna nur erwidern: „Als wir in unsere neue Wohnung übersiedeln mussten, hatten wir nichts an Hausrat. Barbara hat eine Liste gemacht, ihre Freunde und Bekannten informiert und plötzlich war ganz schnell alles Wichtige da. Sarah und Barbara sind so wunderschöne Menschen.“
Diese Menschlichkeit gibt Mut. Mut, dass Diktatoren wie Putin, für die Menschenleben keinen Wert haben, mit ihren Methoden auf Dauer nicht durchkommen werden.
Die beiden haben Träume
Anna, die gerne Rad fährt und das Arbeiten im Garten liebt, träumt von einem eigenen kleinen Bauernhof, in dem sie der Imkerei nachgehen kann. Ihre Tochter mag Volleyball, Lesen und Katzen, freut sich, dass sie hier so viele Freundinnen und Freunde gefunden hat. Und obwohl sich die beiden in Österreich sehr wohl fühlen, denkt Anna oft an Ausflüge mit ihrer Freundin Svetlana nach Cherson und an das Schwarze Meer zurück: „Dort war so ein großartiges Klima, wir haben das Baden und das unbeschwerte Spazierengehen im Wald geliebt. Jetzt ist der Wald dort minenverseucht und alles kaputt.“
Es gibt in der jüdischen Kultur ein Sprichwort, das in etwa heißt: Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Nicht nur in Pyhra wird dieser Denkspruch hochgehalten.
Ehrencodex in Community
„In der Ballettszene hilft man sich auf der ganzen Welt gegenseitig, das ist in der Community ein weltweiter Ehrencodex“, erzählt Europaballett-Chef Michael Fichtenbaum. Da war es umso naheliegender, dass man in St. Pölten auch ukrainische Flüchtlinge aufnahm. Seit März 2022 werden beim Europaballett über 20 Tänzerinnen aus Kiev, Dnipro, Charkiw, Odessa beherbergt und trainiert. „Manche gehen wieder zurück oder woanders hin und andere kommen neu zu uns“, erzählt die künstlerische Assistentin Anastasia Irmiyaeva, die gemeinsam mit Julia Bauer die ukrainischen Flüchtlinge betreut. Während Irmiyaeva für die Belange im Ballett zuständig ist, kümmert sich Bauer um die Unterbringung der Vertriebenen, ist ständig mit der Caritas in Kontakt, bemüht sich um Deutschkurse. „Manche haben schon in kurzer Zeit das Sprachniveau A1 erreicht“, so Ballett-Marketingleiter Philipp Preiss. Einige besuchen Gymnasien, bei manchen wird über Online-Kurse via Ukraine die Schulausbildung gewährleistet. Zusätzlich sind abwechselnd auch 10-20 Kinder ab fünf Jahren im Ballettunterricht untergebracht, spontan wurden zwei weitere Klassen eingerichtet.
Es geht ums Helfen
„Grundsätzlich geht es uns ums Helfen, die Qualität der Tänzerinnen passt aber auch ganz gut. Einige kommen aus Profiakademien, haben hohes Niveau und werden auch eingebunden in unser Europaballett-Programm. Eine befreundete Balletttrainerin, Ruslana Samoilenko, hat vor einem Jahr eine professionelle Ballettakademie, wo ihre Schülerinnen ihre Ausbildung weiter fortsetzen konnten, gesucht. Bei uns ist sie fündig geworden. Hier mit der angeschlossenen Ballettakademie ist der perfekte Ort für die Tänzerinnen, um weit weg vom Krieg und in Sicherheit ihrer Leidenschaft nachzugehen“, sagt Fichtenbaum, der sich bei der Stadt für die Unterstützung bedankt, „wenn es ein Problem gibt, hat uns der Bürgermeister absolute Hilfe versprochen und das ist keine Show. Wer will, kann bleiben.“ Es geht auch darum, „den Flüchtlingen den Kopf freizuhalten“, wie Fichtenbaum formuliert. Wie kann man sie von ihren negativen Gedanken ablenken, ihnen wieder zeitweise Freude ins Leben bringen? „Die jungen Mädchen sind schwer traumatisiert zu uns gekommen, haben ja noch Familie in den Kriegsgebieten. Für viele ist es die erste Reise ins Ausland, sie müssen nicht nur mit dem Krieg umgehen, sondern auch mit zerrissenen Familien zurechtkommen“, weiß Irmiyaeva. Einige der Tänzerinnen fahren für kurze Zeit nach Hause und werden dort wieder mit den Kriegswirren und -gräueln konfrontiert. „Der Krieg hat in den Mädchen einiges ausgelöst“, so die gebürtige Russin, die nicht weiß, was sie über Putins „Spezialoperation“ sagen soll, weiter „Es geht um die Menschen. Menschen leben in der Ukraine und in Russland. In der Kunst verstehen wir uns, wir sollten weiter zusammenhalten. Es wäre schön, wenn große Gruppen von unserer kleinen Gruppe lernen könnten. Ich wurde noch in der Sowjetunion geboren, da waren wir einfach Menschen.“
Zwei tanzen in der Staatsoper
„Wir können nicht sagen, du passt nicht. Es ist für uns wichtig, junge Menschen zu unterstützen, wir haben alle genommen. Mit den Tänzerinnen sind auch Lehrerinnen mitgekommen“, so Irmiyaeva, die erfreut ist, dass schon einige Balletttänzerinnen bei großen Europaballett-Produktionen und Tourneen mit dabei waren. Zwei der Ukrainerinnen treten zurzeit an der Wiener Staatsoper in der Oper „Dialogues des Carmeliters“ auf. „Wir haben eine Kooperation mit der Staatsoper. Für die Produktion wurden große Tänzerinnen gesucht. Die zwei Sofias haben schon viel geprobt, absolutes Spitzentraining hinter sich und werden abwechselnd in der Oper tanzen.“
Eine davon ist die 16-jährige Sofiia Stepura, die sich damit einen Traum erfüllen kann: „Ich sehe es als große Chance, in Wien auf der großen Bühne zu stehen. Ich bin zwar noch ein bisserl unsicher, wie ich mich in diesem großen Haus vor so viel Publikum präsentieren kann, freue mich aber schon sehr darauf.“ Sofiia, die gerne strickt und Puzzle spielt, hat als einige der wenigen das Glück, dass ihre Schwester, Mutter und ihr Vater nachkommen konnten. Neben Sofiia wurde ursprünglich auch Stanislawa ausgewählt, die aber jetzt im Rahmen des Sommertheaters bei „Romeo und Julia“ tanzen wird. „Ich fühle mich hier wohl, weil ich sehr gut aufgenommen wurde. Mein Ziel ist es, in einem großen Theater Solotänzerin zu werden“, erzählt Stanislawa, die viel in der Schule zu tun hat, gerne kocht und in Niederösterreich herumfährt, um die Landschaft zu genießen. Beide Balletttänzerinnen lieben Krapfen und überhaupt die Mehlspeisen hier in Österreich. „Ich mag gebratene Maroni sehr gerne und bin froh, dass die Menschen hier so nett und offen sind. Wir bekommen auch viel Unterstützung von Privaten. Ich hoffe aber jeden Tag mehr und mehr, dass der Krieg ein Ende nimmt. Verglichen mit dem Krieg in unserem Heimatland sind alle Schwierigkeiten und Probleme, die man sonst hat, nichts dagegen“, erzählt Stanislawa und freut sich, trotz der großartigen Hilfsbereitschaft in absehbarer Zeit wieder „in ihrer Heimat in Frieden leben zu können.“
So zeigt Niederösterreich mit diesen beiden Beispielen die grenzenlose Hilfsbereitschaft. Denn wenn irrwitzige Diktatoren ein souveränes Land überfallen, dessen Menschen töten und es zu zerstören versuchen, bedarf es internationaler Solidarität und kein wie auch immer geartetes Verständnis für eine, zynisch formuliert, „Spezialoperation“.