MFG - „GROSSES KINO“ IM FESTSPIELHAUS - Interview Bettina Masuch
„GROSSES KINO“ IM FESTSPIELHAUS - Interview Bettina Masuch


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St. Pöltens gute Seite

„GROSSES KINO“ IM FESTSPIELHAUS - Interview Bettina Masuch

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2022

Als Bettina Masuch erstmals nach St. Pölten kam, begrüßte sie die Stadt mit gähnender Leere – Corona hatte die Stadt fest im Griff. Als neue künstlerische Leiterin des Festspielhauses möchte sie die Besucher wieder zurück zur Kultur holen, das Haus noch stärker in der Region verankern, eine neue Jugendkompanie auf die Beine stellen, 2024 die Stadt zum Glänzen bringen und in Sachen zeitgenössischer Tanz „großes Kino“ bieten. Wir baten anlässlich ihrer Premierensaison zum Gespräch.

Sie haben bislang in großen Städten wie Brüssel, Berlin, Düsseldorf & Co. gearbeitet – nun hat es sie in das kleine St. Pölten verschlagen. War das ein großer Switch?
Der „Switch“ ist in gewisser Weise schon während der Corona-Pandemie passiert. Plötzlich konnte ich zu zwei Drittel nur mehr zuhause vorm Computer arbeiten, die Stadt war leer, die Züge waren leer, man durfte sich nicht treffen – das heißt das ganze Leben war anders, nicht nur hier in St. Pölten, als ich angekommen bin, sondern auch in Düsseldorf, wo ich zuletzt gelebt habe. Das war überall ähnlich. Die Kollegen im Festspielhaus kannte ich lange Zeit nur vom Kopf bis zur Brust, im Bildschirmformat von den Video-Konferenzen her. Ein persönliches Treffen war erst viel später möglich. Und selbst als wir offiziell wieder zusammenkommen durften, war es – gerade im Tanzbereich – teils geradezu grotesk. In Nordrheinwestfalen etwa mussten die Tänzer einen Abstand von 1,5 Meter auf der Bühne einhalten – ich hab mich da selbst beobachtet, wie ich zum richtigen Abstandspolizisten mutierte, der die ganze Zeit darauf geachtet hat. Aber beim Tanz ist das natürlich widersinnig, weil der lebt – im wortwörtlichen aber auch im übertragenen Sinne – von Berührung. Das alles hat einfach gefehlt.

Haben Sie deshalb Ihre erste Saison im Festspielhaus gleich unter das Generalthema „Umarmung“ gestellt?
Mir geht es darum, das Festspielhaus für viele Menschen zu öffnen, es gastfreundlich zu machen, gerade in einer Zeit, in der man in Folge der Pandemie eher bequem zuhause vorm Computer sitzt und die Kultur vermeintlich zu einem nachhause kommt. Wir möchten den Menschen wieder den Mehrwert des Theaterbesuchs bewusst machen, möchten ein breites Publikum mit unterschiedlichen Geschmäckern ansprechen, zugleich das Gemeinsame und Diskursive suchen und quasi auf der Bühne verhandeln, damit nicht jeder in seiner eigenen Blase verhaftet bleibt, sondern sich öffnet und dieses produktive Miteinander erfährt. Das ist die Magie des Theaters …

Was macht die Magie des Festspielhauses aus?
Das Haus ist ein spezieller Ort. Allein der Name: FestSpielHaus. Das gibt schon eine gewisse Richtung vor, denn mit Festspielen assoziiert man für gewöhnlich eher etwas Besonderes, das nur eine gewisse Zeit lang läuft. Wir haben aber einen Ganzjahresbetrieb, verbinden also das Festspielhafte mit dem „normalen“ Kulturbetrieb.
Auch von der Optik her strahlt das Gebäude „Festlichkeit“ aus. Diesbezüglich müssen wir aber aufpassen, dass sich nicht mancher vielleicht davon abschrecken lässt im Sinne „Naja, das Haus ist ja nicht für mich als Normalsterblicher gedacht.“ Das Gegenteil ist der Fall – wir wollen alle im Festspielhaus willkommen heißen und die vermeintliche Hemmschwelle niedrig halten. Das muss sich im Programm, der Kommunikation, der Vermittlung niederschlagen.

Programmatisch ist natürlich zeitgenössischer Tanz wieder ein großer Schwerpunkt. Sie besitzen unglaubliche Erfahrung und Expertise in diesem Bereich, sind bestens vernetzt – war dies ein Grund, warum Sie nach St. Pölten geholt wurden, um das Profil des Festspielhauses international noch stärker zu schärfen?
Mag sein. Aber zunächst ist es vor allem wichtig, dass das Festspielhaus in der Stadt selbst funktioniert. Nichts ist verkehrter, als sich nur überregional auszurichten und überall bekannt zu sein, aber in der eigenen Stadt keine Rolle zu spielen. Mir ist es nicht einmal passiert, dass ich in bekannten Häusern gearbeitet habe und der Taxifahrer, als ich ihn darum bat, mich hinzubringen, nur mit den Achseln zuckte und fragte „was ist das?!“ Das Festspielhaus – und dafür wurde es ja auch gebaut – muss primär ein Haus für St. Pölten und die Region sein, wozu natürlich auch Wien zählt! Wenn wir uns darüber hinaus überregional stark positionieren, umso besser.

Sie haben jetzt Wien als Teil des Einzugsgebietes genannt – früher wurde die Bundeshauptstadt ja eher als Bedrohung wahrgenommen – hier die große Metropole, da das kleine St. Pölten.
Ich finde St. Pölten gar nicht so klein. Und das Festspielhaus schon gar nicht – das ist ein sehr großes Haus, gerade für zeitgenössischen Tanz. Ich bin da aber vielleicht auch anders gestrickt. Ich komme aus Sollingen, also auch einer – für deutsche Verhältnisse – kleineren Stadt, und dort habe ich miterlebt, wie Pina Bausch in Wuppertal Großes geschaffen hat, das im Grunde genommen den ganzen Ort geprägt hat. In kleineren Städten gelingt derlei bisweilen sogar vielleicht leichter als in Metropolen, wo man sich stets gegen große Konkurrenz behaupten muss.

Das heißt man kann sich entspannen und muss seinen eigenen Weg gehen?
Es geht jedenfalls nicht um Konkurrenz, sondern eher um ein sinnvolles gegenseitiges Ergänzen. Wichtig ist, dass wir Dinge, die in Wien passieren, nicht doppeln, sondern gerade umgekehrt das umsetzen, was dort nicht stattfindet. Natürlich gibt es auch in Wien, wenn wir etwa an die Wiener Festwochen oder ImPulsTanz denken, zeitgenössische Tanzproduktionen – die sind aber immer nur temporär. Es passieren auch großartige Dinge im Tanzquartier – das ist aber viel kleiner als das Festspielhaus, und die großen Häuser der Bundeshauptstadt sind vornehmlich dem Ballett vorbehalten. Im Festspielhaus St. Pölten mit seinem großen Saal können wir hingegen zeitgenössischen Tanz groß denken, können „Großes Kino“ bieten, das es in Wien schlicht nicht gibt. Dazu kommt noch das hier situierte Tonkünstler Orchester, das ist ein absoluter Glücksfall.

Inwiefern?
Gerade bei der jüngeren Choreografen-Generation ist wieder ein stärkeres Interesse an klassischer Musik zu konstatieren – hier beides bieten zu können, also Arbeiten, wo sich Tanz und Musik quasi überlappen und daher jeweils verschiedene Publikumsgruppen im Auditorium sitzen, ist extrem spannend. Ich habe einmal eine Produktion umgesetzt, in der Roboter mit Tänzern auf der Bühne standen – das Publikum war regelrecht zweigeteilt: auf der einen Seite die Techniker und Ingenieure, die wegen der Roboter gekommen waren, auf der anderen Seite die Tanzfans. Am Ende des Tages hat es beiden gefallen, gerade auch 
die jeweils „fremde“ Welt, und sie sind zu anderen Produktionen wieder gekommen.  

Wie muss man heute die Menschen für Kultur begeistern bzw. was muss Kultur leisten? Theater als moralisch-pädagogische Instanz, als Unterhaltungs- und Eskapismusvehikel, als kritischer Stachel im Fleisch der Gesellschaft … wo würden Sie sich verorten?
Diese Frage beschäftigt mich aktuell sehr. Ich habe das Gefühl, auch für mich ganz persönlich, dass wir an einem Wendepunkt stehen, und dass dies auch auf den Zugang zu Kunst und Kultur abfärbt. Ich komme ja aus einer Zeit, da musste Kunst per se immer kritisch sein – meine früheste Prägung diesbezüglich erfuhr ich in Wuppertal, wo Pina Bausch sich in all ihren Arbeiten kritisch mit der Welt, der Gesellschaft auseinandersetzte, früh etwa die Rolle von Mann und Frau thematisierte etc. 
Aktuell ist die Zeit, in der wir leben, aber so herausfordernd und für manche teils geradezu beängstigend, dass man fast gar keine Begriffe mehr findet für das, was passiert. Das Stakkato von Veränderungen – Corona, der Ukrainekrieg, der mittlerweile deutlich spürbare Klimawandel, die Teuerungen – all das sind gesellschaftliche Herausforderungen, die jeden einzelnen unmittelbar betreffen. Bei vielen spüre ich eine große Erschöpfung, ja Ratlosigkeit – das muss man im Kulturbetrieb anerkennen und darauf reagieren. Ich sehe die Rolle daher zwar nicht in einem Eskapismus, aber Kultur soll eine Art Vitalitätskur sein, wo man zwei Stunden lang Kraft, Mut und Zuversicht tanken kann, wo einem Lebensmut und – ja – auch Optimismus vermittelt werden, so dass man gestärkt wieder herauskommt. 

Klingt wie ein Antidepressivum gegen Corona & Co. Haben die Krisen der Kunst- und Kulturszene Ihrer Meinung nach eher geschadet, im Sinne „Naja, wir kommen eh ohne auch aus“, oder just umgekehrt ihre wichtige gesellschaftliche Rolle schmerzlich bewusst gemacht?
Ganz prinzipiell hat die Pandemie jedenfalls wie ein Brandbeschleuniger gewirkt – Krisen, die sich schon zuvor abgezeichnet haben, sind rascher schlagend geworden. Und die Kunst als gesellschaftliches Ereignis, das von Öffentlichkeit lebt, hat darunter natürlich enorm gelitten.
Bei den Besuchern muss man unterscheiden. Menschen, für die der Kulturgenuss schon vorher zum Selbstverständnis einer sinnvollen Lebensführung gehörte, für die war die Phase der Schließungen natürlich ganz schlimm und sie sind, sobald geöffnet wurde, auch gleich wieder gekommen. 
Jene aber, die vor der Pandemie zwar auch hin und wieder ins Theater gegangen sind, aber sozusagen keine eingeschworenen Liebhaber im engeren Sinne waren – diese wiederzugewinnen ist eine große Herausforderung. Da schwingt auch eine gewisse Bequemlichkeit mit, weil man sich denkt „Naja, ich kann mir eh zuhause vorm Fernseher auch etwas anschauen“ – nur ist das natürlich nicht dasselbe.
Schließlich haben wir noch Kinder und Jugendliche, die aufgrund der Pandemie teils noch überhaupt nicht in Kontakt mit Kunst und Kultur gekommen sind und daher dieses einmalige Erlebnis gar nicht kennen – die müssen wir sozusagen ganz neu gewinnen und begeistern. Das ist natürlich eine immense Herausforderung – ich sehe es ja im eigenen Familienkreis, wie schwer es ist, die Kids vom Computer und dem Handy wegzuholen. Aber es ist immens wichtig und lohnt sich allemal!

Besteht nicht die Gefahr, dass sich diese negativen Folgen verfestigen könnten?
Ich hoffe nicht. Aber es zeigt sich aktuell jedenfalls die Tendenz, dass die Besucher generell zurückhaltender sind, also eher kurzfristig kaufen und nicht gleich ein Abo nehmen, weil sie ja nicht wissen, was bis dahin passiert. Da ist schon eine Verunsicherung zu konstatieren. Viele besuchen auch eher bekannte Stücke mit bekannten Künstlern. Das ist aber eine sehr gefährliche Entwicklung für den Kulturbetrieb insgesamt, weil diese Einstellung auf Kosten der jungen Künstlergeneration geht. Ich sehe es daher als ganz klare Aufgabe von Häusern wie dem Festspielhaus an, auch den Nachwuchs aktiv ins Programm einzubauen, neue Künstler aufzubauen und die jungen Künstler zu unterstützen – sie sind die Stars von morgen und machen das Theater der Zukunft aus.
Schließlich bringt die Kurzfristigkeit bei den Käufen für die Betriebe auch eine gewisse Planungsunsicherheit mit sich – auch darauf müssen wir uns neu einstellen. Aber ich bin guter Dinge, dass wir das Publikum zurückgewinnen werden. 

Was stimmt Sie so zuversichtlich?
Ich sehe es ja an mir selbst. In meinem Leben nimmt Kultur einen so wichtigen Platz ein, das sind so besondere, beglückende und erfüllende Gänsehautmomente – die erlebst du nicht zuhause vorm Fernseher oder beim Blick in den Computer. Sondern dazu musst du hinausgehen, ins Theater, ins Festspielhaus, in die Öffentlichkeit. Gerade das Festspielhaus mit seiner großen Bühne kann solche magischen Theatermomente zaubern.

St. Pölten scheint ja – entgegen des Trends – aktuell in Sachen Kultur ein Hoffnungsraum zu sein, Stichwort 2024.
Es ist tatsächlich eine großartige und mutige Entscheidung der Stadt, die für die Kulturhauptstadt 2024 vorgesehenen Gelder auch ohne Zuschlag in die Kultur zu investieren. Man hat einfach verstanden, dass Investitionen in die Kultur Investitionen in die Zukunft sind, wenn wir etwa nur an die Tangente, das Kinderkunstlabor, die Sanierung und Neupositionierung der ehemaligen Synagoge oder was sich am Domplatz tut denken – das sind ganz starke Statements! Gerade in unruhigen Zeiten wie diesen ist es wichtig, Visionen zu haben, auf etwas Zukünftiges, Positives hinzuarbeiten und nicht nur zu lamentieren und sich selbst leid zu tun.

Worauf arbeiten Sie im Festspielhaus hin – Sie sind ja für sechs Saisonen bestellt. Wofür soll das Haus 2028 stehen?
Ich hoffe für Nahbarkeit, dass man also, egal aus welcher Ecke man kommt, das Haus gern besucht. Zugleich soll es für inhaltliche Exzellenz stehen. Exzellente Kunst, die aber nicht ex-klusiv im Sinne von ausschließend wirkt, weil sie nur gewisse Kreise anspricht, sondern die ganz im Gegenteil in-klusiv ist, viele Menschen begeistert, auch solche, die vielleicht zuvor mit Kultur noch gar nichts am Hut hatten.
Außerdem möchte ich Kinder und Jugendliche noch stärker im Haus willkommen heißen. Zu diesem Zweck werden wir etwa – dies ist gerade in Ausarbeitung mit den Kunst- und Musikschulen – eine eigene Jugend-Tanz-Kompanie ins Leben rufen, wo junge Tänzer aus der Region die Möglichkeit bekommen, mit Künstlern und Choreografen, die bei uns zu Gast sind, zu arbeiten. Nachwuchskünstler sollen zudem vermehrt die Möglichkeit von Residenzen bekommen. In diesem Sinne möchte ich das Festspielhaus, das prinzipiell sehr stark von Gastspielen abhängt, auch als Arbeitsstandort stärker positionieren, weil wir dazu die nötige Infrastruktur haben, wenn ich etwa an unsere zwei Probebühnen denke. Es wird jedenfalls spannend!

ZUR PERSON
Bettina Masuch studierte Theaterwissenschaft in Gießen. Nach Dramaturgie-Tätigkeiten am Kaaitheater in Brüssel und am Theaterhaus Jena, wechselte sie 1998 an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin und arbeitete dort als Dramaturgin für Produktionen von Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch. 2002 und 2003 war sie Produktionsdramaturgin für die Choreografin Meg Stuart am Schauspielhaus Zürich. Von 2003 bis 2008 arbeitete Masuch als Tanzkuratorin für das Berliner Theater Hebbel am Ufer. Bis 2008 war sie Mitglied der künstlerischen Leitung des Tanzfestivals „Tanz im August“ und verantwortete 2013 dessen Ausgabe zum 25. Jubiläum. Als künstlerische Leiterin gestaltete sie das Springdance Festival in Utrecht von 2009 bis 2013. Ab 2014 war Bettina Masuch Intendantin des tanzhaus nrw in Düsseldorf, das unter ihrer Intendanz 2017 mit dem „Theaterpreis des Bundes“ ausgezeichnet wurde. Sie ist Herausgeberin und Autorin diverser Fachpublikationen und hält Lehraufträge an nationalen wie internationalen Hochschulen. Bettina Masuch ist Mitglied in verschiedenen Jurys und Fachkommissionen, u. a. der Kulturstiftung des Bundes, dem Fonds Darstellende Künste und des Goethe-Instituts. Am 7. Oktober startet sie mit Sidi Larbi Cherkaouis „Vlaemsch (chez moi)“ und seiner Compagnie Eastman in ihre erste Saison als künstlerische Leiterin des Festspielhaus St. Pölten. http://www.festspielhaus.at