MFG - Paul Gessl – An der Startrampe
Paul Gessl – An der Startrampe


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St. Pöltens gute Seite

Paul Gessl – An der Startrampe

Text Johannes Reichl
Ausgabe 03/2024

2026 möchte er in Pension gehen. Bis dahin stehen für Paul Gessl – als NÖKU-Boss Herr über mittlerweile 40 Landeskultureinrichtungen – aber noch ein paar Großprojekte an: In Wiener Neustadt wird gerade das Stadttheater neu positioniert und in die NÖKU Familie aufgenommen, die Schallaburg feiert ihr 50-Jahr-Jubiläum mit einem großen Renaissance-Schwerpunkt und last but not least ist da noch die Landeshauptstadt, wo am 30. April mit der Eröffnung der „Tangente – Festival für Gegenwartskultur“ quasi das Kulturjahr „Kultur St. Pölten 2024“ hochoffiziell vom Stapel läuft. Genau darüber plauderten wir mit dem Kulturmanager eingehend.


In der Bevölkerung gibt es zur Tangente aktuell zwei Wahrnehmungen: Die eine ist ein großes Fragezeichen – die Leute wissen nach wie vor nichts damit anzufangen. Die zweite ist der Eindruck, dass es sich um eine Nischenveranstaltung für Hochkulturfuzzis handelt, also nichts für mich als „einfacher“ Bürger ist. Was soll es wirklich sein?
Vielleicht vorneweg: Die Grundfrage ist ja, warum wir uns im Kulturjahr gerade mit einem wohldurchdachten Festival für Gegenwartskultur positionieren? Ich möchte diesbezüglich Uli Fuchs, der federführend für die Europäischen Kulturhauptstädte Linz und Marseille wirkte, zitieren: „Wenn ich mich für die Kulturhauptstadt bewerbe, und dann nicht mit etwas Neuem, Unkonventionellem, Überraschendem aufwarte, dann ist die Bewerbung eine Themenverfehlung.“ Das heißt, wir bringen ganz bewusst etwas, mit dem St. Pölten bisher nicht assoziiert wird, womit man für diese Stadt nicht rechnet, womit man Aufsehen erregt. Das für sich allein ist vielleicht schon ein Mitgrund, warum die Tangente bislang noch nicht so verfängt, weil es so etwas hier eben noch nie gegeben hat und dafür der Kontext fehlt. Ich bin aber überzeugt, dass spätestens mit der Premiere der Oper JUSTICE zur Eröffnung am 30. April die Idee hinter der Tangente, ihre Substanz greif- und nachvollziehbar wird. Dass es nämlich darum geht, einen starken gesellschaftlichen, kulturellen und auch politischen – nicht parteipolitischen wohlgemerkt – Diskurs anzustoßen, der die Stadt insgesamt weiterbringt.

Aber ist die aktuelle Wahrnehmung nicht auch Folge eines massiven Delays, weil das Projekt – an dem immerhin seit Jahren gearbeitet wird – lange Zeit nicht so recht vom Fleck zu kommen schien, fehlende kommunikative Implementierung inklusive? Sie selbst haben ja letztes Jahr quasi die Reißleine gezogen, der künstlerische Leiter wurde ersetzt. 
Dass es bei einem derartigen Großprojekt Herausforderungen gibt, steht außer Streit, vielleicht wurden auch Fehler gemacht. Genau deshalb habe ich – das stimmt – zuletzt ganz bewusst viel Verantwortung an mich gezogen. Es gab davor interne Prozesse, möglicherweise auch Inhalte, die man zeitgerechter hätte auf Schiene bringen können, die man auch in der Kommunikation hätte früher erklären müssen. Ein künstlerischer Leiter hat nun einmal nicht nur die Aufgabe, künstlerisch innovativ zu sein, sondern er muss auch ein starker Vermittler seiner Inhalte sein, um diese nach außen hin zu positionieren. Mit Tarun Kade ist das jetzt gelungen, die Lernkurve zeigt eindeutig nach oben. Und man darf bitte die Tragweite dieses Projekts nicht übersehen. Da ist – vielleicht nicht immer nach außen hin offensichtlich – schon enorm viel entstanden, das für das weitere Fortkommen der Stadt insgesamt, nicht nur für den Kunst- und Kulturbereich, bestimmend sein wird.

Was meinen Sie damit konkret?
Allen voran dieses starke Commitment auf allen Ebenen. Die Vernetzung von Stadt und Land. Die Vernetzung von städtischen Kultureinrichtungen mit der NÖKU. Die Vernetzung der freien Szene mit den öffentlichen Kultur-Institutionen. Die Vernetzung der Bevölkerung mit der Kultur über zahlreiche partizipatorische Projekte, wo wir auch ganz bewusst in Entwicklungsräume gegangen sind. Die Vernetzung zwischen Mostviertel Tourismus, NÖ Landeswerbung und Tourismus St. Pölten, auch hier über das Vehikel Kunst und Kultur. All das klingt vielleicht logisch und die Leute sagen „jo eh“ – nur: Vor vier, fünf Jahren hat es diese Verbindungen schlichtweg nicht gegeben! Wir leben dieses Miteinander aber jetzt, und das ist der größte Erfolg des Projekts bislang, bevor es überhaupt begonnen hat! Das ist ein Meilenstein für die Landeshauptstadt und das Land Niederösterreich.

Wobei einem im Fall des Tangente-Festivals mitunter der Verdacht beschleicht, dass da die Stadt – immerhin 50 % Gesellschafter – eher der Juniorpartner der NÖKU ist. 
Also ich bin jetzt über 20 Jahre im Job, habe alle großen landesfinanzierten und landesorganisierten Kulturprojekte bis hin zu den Landesausstellungen federführend begleitet, und kann nur eines sagen: Was hier dank der Offenheit von Stadt und Land an Miteinander auf Augenhöhe gelebt wird, ist einzigartig. Ich orte da ein großes Vertrauen von allen Playern untereinander, vom Bürgermeister abwärts, gerade auch in die Organisation der NÖKU. Da braucht sich sicher niemand zurückgestellt oder als Juniorpartner fühlen.

Ich habe es auch eher so gemeint, dass die Stadt über diese Rollenverteilung bei der Tangente eigentlich ganz froh ist und sich, frei nach dem Motto „Paul, geh du voran“, ein bisserl hinter der NÖKU versteckt.
Also, das sehe ich überhaupt nicht so. Ganz im Gegenteil beweist die Stadt enormen Mut, weil sie im Zuge des Prozesses ja auch heiße Eisen angepackt hat, denken wir etwa an die Diskussionen rund um den Domplatz, KiKuLa etc. Und da sind wir schon beim Punkt: Es geht bei „Kultur St. Pölten 24“, wie der Claim heißt, ja nicht nur um die Tangente – die ist ein Baustein von vielen, beileibe nicht der einzige – sondern um die ganze Bandbreite kultureller Aktivitäten in diesem Jahr, und die ist gewaltig. Und sie ist es deshalb, weil St. Pölten weiß, dass nur ein offener Diskurs, Urbanität und Mut eine Stadt weiterbringen und dass Kunst und Kultur probate Mittel sind, um als Startrampe für positive Entwicklungen zu dienen. 

Wo wird das manifest – können Sie ein Beispiel geben?
Nehmen wir die Linzer Straße: Warum haben wir in gemeinsamer Abstimmung genau dort das Festivalzentrum situiert? Weil dies ein seit Jahrzehnten frequenz- und infrastrukturschwacher sowie architektonisch lange Zeit stiefmütterlich behandelter Raum mitten in der Innenstadt ist. Die Straße hat in der Frequenzanalyse gerade einmal ein Zehntel von Herrenplatz und Wiener Straße! Hier wird nun ganz bewusst Kunst und Kultur genutzt, um Stadtentwicklung anzuschieben – und das wird auch nachhaltig gelingen, wobei wir es sozusagen auf die Spitze treiben, indem die Straße zur Fußgängerzone wird. Dass uns dies in einem Miteinander gelingt, stimmt mich sehr zuversichtlich und sagt viel über die Stadt aus.

Aber ist es mit der Diskursfreude, welche auch ein explizites Ziel der Tangente rund um ihre Kernthemen „Ökologie“, „Historie“, „Demokratie“ sein soll, tatsächlich so weit her? Bei manch Diskussionen rund um das Kulturjahr selbst reagierte die Politik bisweilen eher sensibel bis genervt, wenn wir etwa an den KinderKunstLabor-Standort oder die künftige Rolle des Domplatzes denken. Ist das nicht widersprüchlich bis scheinheilig? 
Nein, weil auch hier die unterschiedlichen Zugänge ja völlig legitim sind – es gibt eben verschiedene Ansichten dazu, im Falle des Domplatzes aber auch einen aufrechten Gemeinderatsbeschluss hinsichtlich Gestaltung und Nutzung. Was ich daher persönlich nicht verstehe: Warum bekennt man sich jetzt nicht klar zu diesem Weg? Warum gibt man dem Platz jetzt nicht einmal Zeit, sich auf dieser Grundlage zu positionieren? Und zwar ganz bewusst anders als ehedem der Rathausplatz. Warum also unbedingt fixe Gastronomie, wo es doch spannende Lokale gleich am Herrenplatz und am Rathausplatz gibt? Warum mobile Spielgeräte? Warum plötzlich Blumentröge? Für mich persönlich ist das ein Platz, der durch seine Weite wirkt. Als Entree zum Dom. Als Marktplatz. Als Ort, wo die Geschichte, die man jetzt akribisch mit den Ausgrabungen aufgearbeitet hat, berücksichtigt werden muss. Und natürlich als temporärer Spielort, der ein wertiges, edles Ambiente für spannende Veranstaltungen bietet, die so am Rathausplatz etwa nicht möglich sind. Denken wir nur an die Eröffnung letzten September – das war ein Riesenerfolg. Und auch heuer wird es wieder Konzerte geben, kulturelle Interventionen, Kino und manches mehr. Man muss sich nur darauf einlassen, muss dem Domplatz die Chance geben, sich zu entfalten. Und genau in diese Richtung arbeiten wir.

Ärgert Sie es dann, wenn – bezogen auf das Gesamtkulturjahr – nicht alle diese Richtung mittragen wollen und es ähnlich wie beim Trainer der Fußballnationalmannschaft quasi Hunderte Teamchefs, in dem Fall Kulturmanager gibt, die wissen, wie man es besser macht? 
Nein, einfach weil ich aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß, dass Kunst- und Kulturarbeit nun einmal von vielen kleinen Schritten geprägt ist. Ich kann mich erinnern, als wir 2000 das Festspielhaus neu positioniert haben. Davor fanden pro Saison gerade einmal sechs Konzerte der Tonkünstler statt – heute sind es 20! Oder nehmen wir das Landestheater – als wir es von der Stadt übernommen und in Folge von einem Mehrspartenhaus samt Orchester und Operette in ein Einspartenhaus mit Fokus Schauspiel überführt haben, prophezeiten viele: „Das wird nie funktionieren!“ Heute ist das Landestheater eine absolute Erfolgsgeschichte, die Besucher kommen von überall her. Oder was musste ich mir anhören, als wir Grafenegg hochgezogen haben: „Wozu brauchen wir das?“, „Das wird eine Kunstruine“, „Das wird der Tod des Festspielhauses!“ Und heute? Genießen die Leute, die ins Festspielhaus gehen, mit Freude das Angebot in Grafenegg und keiner möchte es mehr missen. Was ich damit sagen möchte: Man muss einen Anfang machen, muss mutig sein, muss Neugierde schaffen, muss Überzeugungsarbeit leisten und Kultur eben vermitteln – immer und immer wieder. Weil es lohnt. Was man heute sät, kann später fruchtbringend aufgehen und geerntet werden.

Wie misst man diese „Ernte“? Gibt es eigentlich Prognosen hinsichtlich Effekten auf Tourismus, Wirtschaft, Umwegrentabilität durch das Kulturjahr?
Nachdem wir mit Steuermitteln hantieren, ist Messbarkeit, ist Transparenz oberstes Gebot! Bei gewissen Faktoren wie Image, Markenentwicklung, das Wecken von Neugierde ist das nicht immer einfach, aber auch das decken wir mit begleitenden Umfragen ab. Zugleich bemühen wir uns um handfeste Kennzahlen: Wie sieht es etwa im Tourismus aus – da hatten wir 2023 rund 100.000 Ankünfte und 200.000 Nächtigungen. Da erwarten wir uns natürlich 2024 ein Plus. Oder wir haben Frequenzmessungen in der Stadt durchgeführt, an verschiedenen Orten. Diese werden wir im kommenden Jahr wiederholen und schauen, wie sie sich verändert hat.
Im Hinblick auf Tourismus haben wir aktuelle Imagewerte abgefragt. Diese werden wir Ende 2024 aktualisieren, um etwaige Veränderungen zu erkennen. Und wir werden die Besucherströme dank der Partnerschaft mit einem Mobilfunkanbieter verfolgen und analysieren. Bei alledem geht es immer um Fragen der Wertschöpfung, des Mehrwerts, des Nutzens. Und wir werden ganz klar dokumentieren, welche Mittel wofür eingesetzt werden. 

Wofür werden sie eingesetzt?
Das Projektbudget für das Kulturjahr beträgt 17,6 Millionen Euro, das jeweils zur Hälfte von Stadt und Land getragen wird. Eine Million Euro möchten wir über Ticket- und Eigenerlöse sowie Sponsoring selbst erwirtschaften. Das reine Programmbudget liegt bei etwa 10 Millionen Euro, wobei die größten Brocken die Oper „Justice“, der Kunstparcours entlang der Traisen sowie die Konzerte am Domplatz sind. Fürs Marketing sind rund zwei Millionen Euro veranschlagt. Gar nicht in diesen Kosten berücksichtigt sind Infrastrukturprojekte wie etwa die Renovierung und inhaltliche Neuausrichtung der Ehemaligen Synagoge oder der Neubau des KinderKunstLabors. Diese werden übrigens, was mir sehr wichtig ist zu betonen, auch vom Bund gefördert, was ihre überregionale, ja österreichweite Relevanz und Leuchtkraft unterstreicht.

Was halten Sie Kritikern entgegen, die diese Kultur-Ausgaben in Zeiten von erhöhter Inflation & Co. dennoch für inopportun, ja gar unmoralisch halten? 
Das sind doch die ewigen Fragen, die bei jeder Kulturhauptstadt-Bewerbung oder auch bei jeder Landesausstellung aufgeworfen werden – und das völlig zuecht, weil es wie gesagt um Steuergelder geht: „Wozu brauchen wir das überhaupt?“, „Rechnet sich das?“, „Was bleibt?“. Für St. Pölten, das ist das Bemerkenswerte, können wir schon jetzt prophezeien, was über das Jahr 2024 hinaus die Stadt prägen und bleiben wird: die Ehemalige Synagoge, das KinderKunstLabor, der Domplatz, Solektiv, eine gemeinsame Museumskarte. Dazu zahlreiche städtische Projekte, die im Windschatten davon realisiert werden wie etwa die neue Stadtbibliothek, die Öffnung des Alumnatsgartens, der Grillparzer Campus für die Musikschule, die Neugestaltung von Europaplatz und Promenadenring etc. All diese Dinge sind bereits in Umsetzung und werden nachhaltig bleiben, und da sind die positiven Effekte durch das Kulturjahr selbst noch gar nicht berücksichtigt. Das kommt der gesamten Region zugute.

Weil sie die Region ansprechen. Tatsächlich wurde im Zuge der Kulturhauptstadt-Bewerbung die Schaffung einer Kulturregion noch als Schwerpunkt präsentiert, was sich auch im Programm niederschlagen sollte. Bei der Tangente ist davon praktisch nichts mehr übriggeblieben, alles spielt sich in St. Pölten ab. 
Stimmt. Das Scheitern der Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt und damit einhergehend ein geringeres Budget machten schlichtweg eine Redimensionierung bzw. Neuausrichtung des Projektes notwendig. Tatsächlich geht es also vordergründig um St. Pölten, was auch insofern schlüssig ist, weil die Stadt ja immerhin 50% der Mittel für die Umsetzung trägt. Was aber sehr wohl im Fokus geblieben ist – dafür haben wir hartnäckig Bewusstseinsbildung betrieben – ist die Etablierung einer eigenen Tourismusregion im Zentralraum, welche die Angebote der nahen Hotspots Pielachtal, Traisental, Schallaburg, Melk bis hin zur Wachau integriert. Das ist für die positive Vermarktung der gesamten Region essentiell und wird weit über 2024 hinaus wirken. 

Für die Tangente ist das ja weniger ausgemacht, wie man hört. Wird die Gesellschaft nach 2024 liquidiert werden? 
Ganz ehrlich: Aktuell ist für mich wichtiger, die – auch dank des Festivals – langfristigen, positiven Folgen und Ausflüsse von „Kultur St. Pölten 24“ zu erklären. Aber wir werden zu gegebener Zeit – das wird wohl irgendwann nach der Eröffnung sein – gemeinsam entscheiden, ob es auch in Zukunft einer Fortsetzung dieses Formates braucht oder nicht. Jetzt ist einmal der Fokus auf 2024 gerichtet, auch die Mitarbeiter der Tangente sind – dies verlangt die Fairness und Planungssicherheit – befristet angestellt. Und eines ist auch klar: Fußend auf die Entwicklungen in diesem Jahr wird es – step by step – wohl Projekte geben, die sich über 2024 hinaus weiterentwickeln sollen.

Welches Resümee werden Sie Ende 2024 ziehen, ab wann ist das Kulturjahr ein Erfolg?
Also, ich erwarte keine kurzfristige Evaluierung von Erfolg oder Misserfolg, sondern die Tragweite, welche die nunmehr eingeleiteten Schritte zeitigen, wird sich langfristig offenbaren. Ich glaube jedenfalls unbedingt an die Kraft von Kunst und Kultur als Startrampe positiver Entwicklung. Das Land Niederösterreich ist damit in den letzten Jahrzehnten sehr gut gefahren, und auch St. Pölten ist dank dieses Zuganges – davon bin ich überzeugt – auf dem absolut richtigen Weg!