MFG - Peter Filzmaier – „Ein Erdbeben erwarte ich auf keinen Fall“
Peter Filzmaier – „Ein Erdbeben erwarte ich auf keinen Fall“


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Peter Filzmaier – „Ein Erdbeben erwarte ich auf keinen Fall“

Text Johannes Mayerhofer
Ausgabe 12/2022

Nun ist es fix: Niederösterreich wählt am 29. Jänner einen neuen Landtag. Aufgrund der bundespolitischen Makrolage – Stichwort ÖVP-Korruptions-Untersuchungs-Ausschuss – wähnen manche gar das Undenkbare: einen Verlust der VP-Regierungsabsoluten in Niederösterreich. Politologe Peter Filzmaier hält dies aber für ziemlich unwahrscheinlich. Wir sprachen mit ihm über die besondere Konstellation dieser Wahlen, Eigenheiten des Proporzsystems sowie Wählen in Krisenzeiten – innerparteilichen ebenso wie allgemeinen.


Laut bisheriger Demoskopie könnte die ÖVP-NÖ ihre historische absolute Mehrheit verlieren. Was könnte dies politisch für das Land NÖ und für die Landespartei – auch personell – bedeuten?
Die Volkspartei Niederösterreich wird nach jetzigem Stand ihre absolute Mehrheit an Mandaten im Landtag verlieren. Sie könnte aber diese Mehrheit in der Landesregierung behalten, wenn ihr nämlich nach der Wahl statt bisher sechs in Zukunft immer noch fünf von neun Regierungssitzen zustehen. Im niederösterreichischen Proporzsystem haben ja kleinere Parteien keinen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung, fallen also bei der Berechnung der dortigen Sitzzahl sozusagen weg. Daher kann die ÖVP auch mit knapp über 40 Prozent der Stimmen mehr als 50 Prozent der Regierungssitze haben. Im benachbarten Oberösterreich haben ihr dafür 2021 sogar 37 Stimmenprozente genügt.

Durch das Proporzsystem waren auch SPÖ und FPÖ bisher mit in der Landesregierung vertreten. Würde ein Verlust der ÖVP-„Absoluten“ also ein wirkliches politisches Erdbeben oder nur eine graduelle Machtverschiebung im Proporz bedeuten? Wer könnte von der Machtverschiebung besonders profitieren?
Es ist, wie gesagt, offen, ob es wirklich eine Machtverschiebung gibt. Ein Erdbeben erwarte ich auf keinen Fall, weil wir eben den Proporz nach Parteienstärke in der Regierung haben und keine freie Koalitionsbildung. Die Volkspartei Niederösterreich wird klar Erster der Wahl werden, und nur einen Teil ihrer Macht abgeben müssen. Auch die Wahl eines Nicht-ÖVP-Landeshauptmanns im Landtag ist kaum möglich, weil es einen gemeinsamen Vorschlag für die ganze Landesregierung geben muss.

Ist das Proporzsystem Ihrer Meinung nach noch tragbar, oder sollte zum Mehrheitssys­tem gewechselt werden?
Das Proporzsystem ist nur geschichtlich sehr gut argumentierbar. Man wollte alle Parteien ab einer bestimmten Mindestgröße von knapp zehn Prozent der Stimmen quasi an einen Regierungstisch zwingen, weil die politischen Lager ja 1934 aufeinander geschossen haben. Wer an einem Tisch sitzt, trägt seine Streitigkeiten mit Worten und nicht mit Maschinengewehren aus. Nur müssen wir das ja heute hoffentlich nicht mehr befürchten, und der Proporz ist nicht zeitgemäß sowie wurde mit Ausnahme von Nieder- und Oberösterreich inzwischen überall abgeschafft. Auch in Niederösterreich haben alle Parteien irgendwann ein Ende des Proporzes zumindest überlegt, nur nie alle zur gleichen Zeit. Denn der Standpunkt bestimmt hier die Perspektive: Parteien sind allzu oft für oder gegen den Proporz, je nach dem ob sie dadurch machtpolitisch Vor- oder Nachteile haben.

Es heißt, das Proporzsystem lähme allgemein die parlamentarische Kontrolle bzw. Rolle der Opposition, weil alle Parteien über einem gewissen Stimmenanteil mit in der Regierung sitzen, ganz im Gegenteil zum Mehrheitssystem. Können Sie dieser Kritik als Politikwissenschaftler etwas abgewinnen, oder reden sich die Kritiker das Mehrheitssystem nur schön? 
Die von Ihnen angesprochene Kritik ist richtig. Weil ja im Proporzsystem jederzeit ein Wahlergebnis zustande kommen kann, bei dem alle Parteien zu Regierungsparteien werden – das heißt, dass ihnen mindestens ein Landesrat zusteht – auch wenn das in Niederösterreich derzeit nicht der Fall ist. Dann gibt es im Landtag, der auch Funktionen der Kontrolle gegenüber der Regierung hat, keine einzige Oppositionspartei mehr. Regierungsparteien kontrollieren stattdessen sich selbst, in Oberösterreich z. B. ist das infolge des Wahlergebnisses bis 2021 so gewesen.

Wie wird ein kohärentes Regierungsprogramm erstellt, wenn die Regierung nicht Ergebnis von Verhandlungen, sondern einer schieren Regierungsbildung rein per Wahlergebnis ist?
Der Proporz regelt ja nur die Beteiligung an der Regierung und die Zahl der einer Partei zustehenden Landesräte als Regierungsmitglieder, dafür gibt es wirklich keine Verhandlungen. Inhaltlich wird trotzdem mehrheitlich ein Regierungsprogramm und auch die konkrete Zuständigkeit der einzelnen Landesräte beschlossen. Entweder mit absoluter Mehrheit – so wie derzeit seitens der ÖVP – oder durch die Vereinbarung von zwei Parteien, die eine solche Mehrheit haben, was dann – formal nicht ganz richtig – als defacto-Koalition bezeichnet werden kann, da diese Parteien in der Regel auch im Landtag kooperieren und gemeinsam für oder gegen etwas stimmen. Dafür braucht es Verhandlungen.

Wird die ÖVP-NÖ die Suppe für die skandalgebeutelte Bundes-ÖVP auslöffeln müssen oder sind Bundes- und Landespolitik strikt zu trennen?
Die niederösterreichische Volkspartei verfolgt bereits im Vorwahlkampf die klar erkennbare Strategie ihre Kommunikation auf die Landespolitik zu beschränken. Doch natürlich kann das nicht durchgehend funktionieren. Wie auch? Wählerinnen und Wähler in Nieder­österreich lesen ja genauso Tag für Tag die bundespolitischen Negativschlagzeilen. Auch das von der ÖVP propagierte Bild einer harmonischen gemeinsamen Politik im Bundesland wird durch die Skandale und Korruptionsvorwürfe auf bundespolitischer Ebene geradezu konterkariert.

Sollte die ÖVP-NÖ tatsächlich ähnlich stark verlieren wie etwa in Tirol, würde dies das bundespolitische Fass zum Überlaufen bringen? 
Und was genau soll die ÖVP dann tun? Nach einem schlechten Ergebnis auch auf Bundesebene unbedingt wählen wollen, damit man dort möglichst bald auch verliert? Durch eine Neuwahlentscheidung im Bund als neuerliche Turbulenz auch die folgenden Landtagswahlkämpfe in Kärnten und Salzburg zusätzlich erschweren? Das wäre nicht logisch.

Neue parteipolitische Akteure sind in NÖ oberflächlich betrachtet momentan noch nicht wahrnehmbar. Haben Sie da eventuell anderslautende Informationen/Hinweise, beispielsweise die Partei MFG?
Eine neue Partei hätte zwar aufgrund der allgemeinen Stimmungslage der insbesondere auf Bundesebene großen Enttäuschung und Verärgerung über etablierte Parteien Chancen, doch muss sich diese erst einmal organisieren und da wird die Zeit bis zur Landtagswahl langsam arg knapp. Die MFG beispielsweise ist eine Einthemenpartei, die – man verzeihe mir das Wortspiel – auf der Coronawelle mitgeschwommen ist, aber dabei nur von der Proteststimmung und Verunsicherung profitierte, ohne durch eigene Kraft irgendwie zu überzeugen.

Und allgemein bezüglich Wählen in Krisenzeiten: Ist mit vermehrter Protestwahl, geringerer Wahlbeteiligung etc. zu rechnen? Was kann man aus der Erfahrung der Vergangenheit diesbezüglich sagen?
Es gibt keinen automatischen Begründungszusammenhang, dass Krisensituationen zu einer niedrigeren Wahlbeteiligung führen würden. Gerade Krisen können ja auch zur Meinung führen, dass es nun auf die eigene Stimme mehr ankomme als früher. In Tirol ist zuletzt im September die Wahlbeteiligung gestiegen, wenn auch von einem sehr niedrigem Ausgangsniveau.

DER LANDTAG – WAS WIR WÄHLEN

Bei den NÖ-Landtagswahlen wird das Landesparlament, also der Gesetzgeber für Niederösterreich mit 56 Abgeordneten gewählt. Gleichzeitig leitet sich aus dem Wahlergebnis auch die Landesregierung ab – und in NÖ sogar ziemlich direkt. 

Denn hier werden Landesregierungen nicht durch Koalitionsverhandlungen, sondern nach dem Proporz gebildet: Jede Partei, die einen gewissen Stimmenanteil bei der Landtagswahl erreicht, ist mit einem oder mehreren Landesräten an der Landesregierung beteiligt. Aktuell sind dies ÖVP, SPÖ und FPÖ. Die kleineren Parteien Grüne und NEOS sind in Opposition. Die ÖVP stellt als stärkste Fraktion die Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Der Landtag kann eigene Gesetze beschließen, die dann von der Landesregierung exekutiert werden. Alleiniges Entscheidungsrecht haben Bundesländer etwa bei den Themen Abfallwirtschaft, Kindergärten, Raumordnung, Natur- und Landschaftsschutz. Es gibt allerdings eine lange Reihe von „Querschnittsmaterie“, die sich Länder und Bund teilen. Neben der Gesetzgebung, übernehmen die Bundesländer außerdem einen Teil der Verwaltungsaufgaben des Bundes. Das nennt man mittelbare Bundesverwaltung.

Landtagswahlen haben aber auch indirekte Auswirkungen auf die Bundesgesetzgebung. So hängt vom Ergebnis der Landtagswahlen die Zusammensetzung des Bundesrats ab. Dieser hat als „zweite Kammer“ neben dem Nationalrat bei zahlreichen Gesetzesvorhaben des Bundes ein Vetorecht, das der Nationalrat allerdings überstimmen kann. Und nicht zuletzt üben die Bundesländer auch über die weit bekanntere Landeshauptleutekonferenz erheblichen Einfluss auf die Bundespolitik aus. Die wahre Macht dieser Konferenz kann allerdings nur erahnt werden, da sie eine informelle Gruppe ohne jegliche Verankerung in der Verfassung ist.