MFG - Scheißzeit
Scheißzeit


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Scheißzeit

Text Thomas Winkelmüller
Ausgabe 03/2021
Meine Nachbarin hat mir dieses Jahr bereits das zweite Mal vor die Tür geschissen. Sie glauben, Sie hätten sich gerade verlesen, ich habe meinen Augen nicht getraut. Früh morgens schleppe ich mich aus dem Haus und dann grüßt mich statt der Sonne die Scheiße.
Bevor Sie jetzt den Kopf schütteln und sagen, diese Geschichte sei hier deplatziert: Sie ist es keineswegs. Dazu komme ich aber noch. Erst einmal zurück zum Flur. Was würden Sie machen? Die Hausverwaltung anrufen? Bei der Nachbarin klopfen? Sie hat ihre Toilette – wie in Altbauwohnungen nicht ungewöhnlich – am Gang vis à vis meiner Wohnung und den Kot zweifelsohne nach oder vor dem morgendlichen Klogang verloren. Eine braune Schleifspur führt vor ihre Tür. Ich habe mir jedenfalls Plastikhandschuhe übergezogen und einen Schwamm geschnappt. Weitere Details erspare ich Ihnen.
Mein Problem: Ich kenne die Frau nicht. Am Gang grüße ich sie, worauf die Dame nur schnell wieder in ihre Wohnung huscht. Sie ist alt und verstört. Eine andere Nachbarin sagt uns, besagte Nachbarin sei vor einem halben Jahr sehr krank geworden, mehr wisse sie nicht. Besuche hätte die Frau schon lange nicht gehabt.
Ich werde mich die Tage durch die Leitungen der Stadt Wien wählen und herausfinden, wie man der Frau helfen kann. Bei der Hausverwaltung schwärze ich sie nicht an. Wenn Sie auch zur Miete wohnen und eine ältere Nachbarin haben, läuten Sie einmal an ihre Tür und sehen nach ihr. Was ist der Geruch von Scheiße schon gegen den einer faulenden Leiche?