MFG - Univ.-Prof. Dr. mult. Anton Burger - „Das Leid kann ja nicht das Letzte sein!“
Univ.-Prof. Dr. mult. Anton Burger - „Das Leid kann ja nicht das Letzte sein!“


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St. Pöltens gute Seite

Univ.-Prof. Dr. mult. Anton Burger - „Das Leid kann ja nicht das Letzte sein!“

Text Johannes Reichl
Ausgabe 09/2020

Gespräche mit dem dreifachen Doktor Anton Burger sind immer eine Wohltat, weil er einen – wenn man den Wald vor lauter (Corona-)Bäumen nicht mehr sieht – aus dem Dickicht herausführt und an seinem ganzheitlichen Blick auf die Welt teilhaben lässt.

Immerhin hat der St. Pöltner mit Lehrstuhl an der Universität Eichstätt-Ingolstadt neben Betriebswirtschaft auch Jus und Theologie studiert und sich in seinem Ouevre immer über den rein wirtschaftlichen Tellerrand hinausgewagt. Wir sprachen mit ihm, was Corona mit uns macht, warum unser Wirtschaftssystem offensichlich einer kritischen Auseinandersetzung bedarf, welche Rolle Wissenschaft spielt und wie wir in all dem Chaos und der Angst vielleicht dennoch Sinn im Leben finden können.
Wie ist es Ihnen mit Corona an der Universität ergangen?
In den letzten Monaten hat sich die universitäre Lehre auf die digitale Ebene verschoben. Das ist einerseits eine Erleichterung gewesen, zum anderen aber auch eine schwierige Situation, weil dadurch der persönliche Kontakt mit den Studenten nicht im gewohnten Maß stattfinden konnte. Gerade die Wissenschaft lebt aber vom Gedanken-Austausch, vom kritischen Nachdenken. Wenn das auf Dauer zu kurz kommt, besteht die Gefahr, dass wir auf Sicht nur Konformisten „produzieren“ – was gesamtgesellschaftlich höchst problematisch wäre.
Wobei die Wissenschaft im Zuge der Pandemie ja immens an Bedeutung, jedenfalls Öffentlichkeit gewonnen hat, wenn man bedenkt, dass heute Epidemiologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler etc. fast schon öfter zur Situation befragt werden als Politiker.
Da sehe ich zwei Punkte, die man ganz klar auseinanderhalten muss: Was ist Aufgabe der Wissenschaft? Was ist Aufgabe der Politik?
Die Wissenschaft muss forschen, muss sich mit Ursachen ebenso auseinandersetzen wie mit Wirkungen, muss Szenarien entwerfen und Prognosen stellen – all dies unter steter kritischer Selbstreflexion.
Aufgabe der Politik hingegen ist es – im Idealfall auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie im Zuge eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses – konkrete Entscheidungen zu treffen.
Ich warne jedenfalls davor, dass man das durcheinanderbringt. Die Wissenschaft schafft vorläufiges Wissen und sollte sich von sogenannter Tagespolitik fernhalten, sie darf sich nicht anmaßen, Gesellschaftspolitik betreiben zu wollen.  

Wissenschaft hat indirekt aber auch für Verunsicherung gesorgt, weil vielen Menschen, denen nach klaren und eindeutigen Antworten dürstet, im Zuge der Corona-Debatten bewusst wurde, dass selbst die Wissenschaft in vielen Fragen uneins ist, es unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse auf ein und dieselbe Sache geben kann.

Krisen wie die aktuelle Pandemie bringen ohne Zweifel eine prinzipielle Erschütterung unseres Glaubens an den Fortschritt, an die Wissenschaft, an die Lösbarkeit aller Probleme mit sich. Solche Situationen gab es in der Menschheitsgeschichte immer wieder – ich denke da etwa an eines meiner Lieblingsbücher „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig aus dem Jahr 1942, in dem er sich ebenfalls mit dem Verlust und der Unwiederbringlichkeit des bisher vermeintlich Selbstverständlichen auseinandersetzt. Zweig schreibt etwa über Reisebeschränkungen damals, wie wir sie ja auch heute – freilich unter ganz anderen Voraussetzungen – teils wieder erleben.
Er prägte auch das Bild vom Sonnenuntergang als Symbol einer untergehenden Zeit. Erleben wir das jetzt wieder oder ist das zu dick aufgetragen?
Mit dem Bild vom Sonnenuntergang  brachte er jedenfalls diese Erschütterung des Fortschrittsglaubens zum Ausdruck. Auch heute gibt es Ungleichgewicht, Verwerfungen in der Wirtschaft, Wohlstandsverluste – da stellt sich natürlich die Frage: Welche Auswirkungen zeitigt das auf das Soziale, auf das Zusammenleben, auf das Gesundheitswesen, auf die Bildung – bis hin zum Gesellschaftsvertrag, der vielleicht langfristig so nicht mehr haltbar ist, weil die Chancen der Jungen aufgrund schrumpfender Mittel in Zukunft deutlich kleiner werden im Vergleich zu heute. All das erschüttert unseren Fortschrittsglauben, auch unsere Vorstellung, für den Menschen sei alles machbar!
Und was macht diese Erfahrung mit uns? Werden die Echokammern endgültig zu Egokammern – alle denken nur an sich, nur ich denk an mich?
Das ist nicht ausgemacht: Entsolidarisierung ist genauso möglich wie das Gegenszenario. Wir werden uns angesichts der Pandemie jedenfalls wieder stärker des Leids, des Schmerzes, der Hin- und Anfälligkeit des Lebens bewusst. Die Sozialphilosophie spricht diesbezüglich von der fundamentalen Ungeborgenheit des Menschen. Die Unmittelbarkeit des Todes – wenn wir an persönliche Schicksale denken aber etwa auch an Särge in Bergamo – trifft umgekehrt aber auch mitten ins Herz, löst Mitleid aus, was zum Wunsch führen könnte, dass wir eine bessere Welt schaffen wollen, die gesünder ist, in der wir länger leben, wo die Chancen gerechter verteilt sind etc.
Die Erfahrung des Todes als Anstachelung zum „bewussteren“ Leben, weil wir wieder brutal daran erinnert werden, dass es endlich ist?
Mir hat diesbezüglich ein Wort von André Heller gut gefallen, der – zum Sterben und zum Tod befragt – einmal meinte, er empfinde seit je ein Fremdsein in der Welt, und der Tod sei ein starkes Ankommen in der großen Geborgenheit. Dieses Fremdsein manifestiert sich aktuell vielfach: Wir verlieren den Arbeitsplatz, die Sozialsysteme werden ausgedünnt, Unternehmern geht ihre komplette Geschäftsgrundlage verloren – daher leiden wir am sinnlosen Leben, erfahren eine existenzielle Frustration. Die Frage ist: Gibt es Auswege, um wieder einen Sinn im Leben zu finden und aus der Frustration herauszukommen?
Die Wissenschaft macht diesbezüglich aber nicht gerade Mut – die Zukunftsszenarien reichen von der Klimakatastrophe über Flüchtlingswellen und Wirtschaftskrisen bis hin zu Verteilungskriegen und Terrorismus.
Max Horkheimer hat das immer so formuliert: „Wir müssen theoretische Pessimisten, zugleich aber praktische Optimisten sein!“ Wir müssen in der Wissenschaft also quasi immer das Schlimme annehmen bzw. mitdenken, die Dinge beim Namen nennen, Szenarien entwerfen. Zugleich müssen wir aber praktische Optimisten sein, unser Bestes einbringen, also an die Veränderbarkeit glauben, auch mögliche Auswege, Antworten skizzieren. Wie kann das Leben lebenswerter sein und wieder lebenswerter werden. Da sind wir auch bei der Grundfrage, die schon Gott in der Bibel an Adam stellt: „Wo bist du Mensch?!“ Er meint damit: Versteck dich nicht, sondern übernimm Verantwortung – für dich, aber auch für die anderen, für die Umwelt, die belebte wie die unbelebte. Das ist die Handlungsethik des einzelnen. Zugleich gibt es die übergeordnete Ordnungsethik: Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche Rechtsrahmen und Gesetze geben wir uns überhaupt, nach denen das Zusammenleben abläuft. Auch beim Leben im Schmerz dürfen wir jedenfalls nicht die Sehnsucht verlieren, Perspektiven wahrzunehmen – das Leid kann ja nicht das Letzte sein!

Der Sinn des Lebens ist angesichts täglicher Horrormeldungen aber aktuell eher schwer zu finden.

Einen Sinn DES Lebens oder gar einen Sinn des Weltganzen finden, das wäre sowieso schon so etwas wie eine Draufgabe im Leben. Wenn man dazu in der Lage ist – herzliche Gratulation! Entscheidender für die Lebensbewältigung ist, dass man in einzelnen Lebenssituationen Glücksmomente und subjektiven Sinn, also für sich entwickelt, quasi er-findet. Es geht dabei um Sinn IM Leben, wie es Viktor Frankl formulierte, und zwar durch die Hinwendung auf ein Du, auf konkrete Aufgaben usw., gerade auch in schweren Situationen wie der aktuellen Pandemie.

Sind wir mit dem Sinn bei der Religion und im Spirituellen angekommen, die in Krisenzeiten ja Hochkonjunktur haben?

Eine Aufgabe der Religion war jedenfalls seit jeher, dem Menschen bewusst zu machen, dass er endlich ist und dass Schmerz, Leid, Krankheit, Unrecht und Tod nicht das letzte Wort haben, dass das Irdische nicht absolut, nicht das Letzte ist. Diese Sehnsucht nach dem positiven Absoluten empfinden aber auch Menschen, die im traditionellen Sinn nicht religiös sind. Es ist die Hoffnung, dass – wie es etwa Horkheimer formulierte – das Unrecht in der Welt nicht siegen möge, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge. Viele Menschen können aus dieser Sehnsucht Hoffnung und Vertrauen schöpfen. Das kann helfen, mit der Fragilität des Lebens fertig zu werden, die fundamentale Ungeborgenheit zu überwinden.
Es kann aber auch zu Fanatismus führen. Heilslehrer – egal ob religiöse, politische, ideologische – die sich im Besitz des richtigen Weges, der„Wahrheit“ wähnen, feiern aktuell fröhliche Urständ. Viele folgen ihnen blind.
Gefährlich wird es dort, wo diese Sehnsucht nach dem ganz Anderen, dem Absoluten schon im Irdischen zu realisieren versucht wird und – egal mit welchen Mitteln und auf wessen Kosten – auch durchgesetzt werden soll. Denken wir etwa an die Idee der klassenlosen Gesellschaft, an Faschismus und Nationalsozialismus etc., die allesamt in der Tragödie endeten. Das heißt, ich richte mein Augenmerk auf die kritische Analyse, auf die Benennung dessen, was überwunden werden soll und kann, aber das in Bescheidenheit, also ohne große Spekulation über einen Endzustand, eine „Idealgesellschaft“ im Hier und Jetzt – die gibt es nämlich nicht. Da kann man sich an Karl Popper halten, der im Kontext des Fortschritts meinte „Lasst Hypothesen sterben, nicht Menschen!“ Wichtig ist also ein evolutionärer Weg, eine sukzessive Weiterentwicklung, die vom Humanismus getragen ist. Das Wissen des Menschen um Krankheit, Leid und Tod, um seine Endlichkeit und Verlassenheit verbindet alle Menschen, führt zu einem Interesse des Menschen am Schicksal der anderen und von daher haben alle Menschen ein originäres Interesse daran, das Leben in der Welt schöner, leidensfreier, gesünder usw., also humaner zu gestalten. Und was den Fanatismus verschiedenster Art betrifft: Sehr oft ist es der verdrängte Zweifel, der Menschen fanatisch werden lässt! Hier kann eine kritische, eine vernünftige Reflexion ansetzen, denn, wie es nach Goya heißt, „der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“.
An einer großartigen Weiterentwicklung hegt man aber so seine Zweifel, wenn wir es etwa nicht einmal zustande bringen, für genügend Schutzbekleidung zu sorgen. Der angeblich heilbringende freie Markt, die Globalisierung werden plötzlich mit anderen Augen gesehen.
Adam Smith wird ja gerne als Ahnherr des freien Marktes, auf dem die unsichtbare Hand ohne angeblich jegliche staatliche Einflussnahme regiert, zitiert. Nur, was gerne verschwiegen wird: Auch Smith sah Bereiche, die nicht dem freien Markt überantwortet werden dürfen. Das heißt, es braucht Einrichtungen, die eine Rechtsordnung bereitstellen und weiterentwickeln, die für Infrastruktur und öffentliche Güter wie Bildung und auch für jene Spielregeln sorgen, unter denen Märkte – national wie international – funktionieren. Es braucht also die sichtbare Hand der Regeln, damit die unsichtbare Hand des Marktes zum Wohl der Menschen wirken kann. Schwere gesellschaftliche Verwerfungen führen allerdings gnadenlos vor Augen, dass vielfach unzureichende oder gar keine Spielregeln für das Wirtschaften bestehen; hier hat kritische Reflexion anzusetzen!
Viele Themen waren ja schon zuvor virulent – jetzt scheinen sie aber so scharf geworden zu sein, dass man nicht mehr so einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Wo würden Sie so eine Diskrepanz orten?
Unter welchen Rahmenbedingungen wird der internationale Wettbewerb abgewickelt – ist er sozial, gerecht und ökologisch verträglich, oder ist er verzerrt und das glatte Gegenteil davon? Profitiert die Weltgemeinschaft davon oder nur bestimmte Volkswirtschaften auf Kosten anderer? Nehmen wir etwa die Frage internationaler Lieferketten: Nachhaltige Veränderungen könnte Kostenwahrheit beim Transport bringen, wenn also alle Kosten, etwa auch ökologische Folgekosten, miteingerechnet werden. Oder wie sieht es um die Sinnhaftigkeit und ökologische Bilanz von Kurzstreckenflügen aus? Auch da könnte man Kostenwahrheit – und damit wohl ein anderes Flugverhalten – etwa mittels Kerosinsteuern herbeiführen. Und da gibt es noch viele Themen, wenn wir etwa an Overtourism und ähnliches denken.

Bin ich da als einzelner in der Pflicht? Reinhold Messner brachte zuletzt etwa den Gedanken des Verzichts ins Spiel, um die Welt sozusagen besser zu machen.

Natürlich kann der einzelne, etwa in seiner Rolle als Konsument, auf der Handlungsebene einen Beitrag leisten. Noch entscheidender sind aber die Spielregeln, unter denen der Konsum an sich abläuft, ist also die Ordnungsebene. Sind die Rahmenbedingungen also für alle gleich und fair? Wie schaut es um einen gerechten und gleichen Zugang etwa zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheits- und Sozialsystem aus? Natürlich ist es positiv, wenn ich sagen kann, ich kaufe bewusst teure Biolebensmittel, fahre ein E-Auto, verzichte auf Billig T-Shirts und kaufe stattdessen Fair Trade-Produkte. Es ist aber auch ein Privileg! Dies zugleich von jemandem zu fordern, der gar nicht die ökonomischen Möglichkeiten dazu hat, ist hingegen zynisch! Das heißt, meine persönliche Verantwortung muss dahin gehen, beizutragen, dass sich die Ordnungsebene dahingehend ändert, dass ein solches Konsumverhalten jedermann möglich wird – was freilich mit Verzicht meinerseits einhergehen könnte.
Viele legen dann aber lieber die Hände in den Schoß und meinen, ich als einzelner kann eh nichts ausrichten – das System lässt sich nicht verändern.
Da muss ich ganz klar widersprechen: Natürlich hat es der Mensch in der Hand! Der Mensch schafft ja die Spielregeln – die sind ja nicht gottgegeben. Grundsätzlich liegt es an der Politik, Rahmenbedingungen und Regeln zu schaffen. Ich kann mich als einzelner aber aktiv in einen gesellschaftlichen Diskurs einbringen, kann etwa an Diskussionen teilnehmen, kann demonstrieren gehen etc. und so die Politik beeinflussen und damit die Gesellschaft zu neuen Normen führen. In einer Demokratie ist das zum Glück möglich.
Wobei das Paradox ja jenes ist, dass umgekehrt die Demokratie in Zeiten wie diesen mehr zu leiden scheint denn je, viele ihr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik verlieren.
Eines der Probleme einer repräsentativen Demokratie liegt in Spannungen zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Die Grundfrage – und zugleich Grunderwartung – ist: Wie kommt man zu einer sogenannten gerechten Gesellschaft. In der Theorie könnte man Regeln unter der Fiktion „Schleier des Nichtwissens“ entwickeln, d. h. man weiß bei der Formulierung aller Normen nicht, wo man später in der Gesellschaft steht. Ein solches Vorgehen würde zu einer fairen Gesellschaft führen. In der Realität ist es natürlich fatal, wenn der Eindruck entsteht, dass es sich manche Gruppen – zum Beispiel über Parteispenden – richten können, also ihre egoistischen Motive durchsetzen, während das Gemeinwohl hinten ansteht. Das geht mit massivem Vertrauensverlust einher und ist brandgefährlich. In der 1. Republik Österreich oder der Weimarer Republik wurde etwa das Vertrauen in die Institutionen und Grundstrukturen zerstört. Wie die Geschichte endete, wissen wir: in der Katastrophe!